Mythor - 087 - Der Hexenhain
nicht daran zerbrochen. Und wie viele Rückschläge hat Mythor in Vanga schon einstecken müssen?
»Ich habe dir versprochen, dir eine alte Schrift zu zeigen, die vermutlich in Gorgan abgefaßt ist«, sage ich langsam. »Willst du sie sehen?«
»Ja.« Er sagt es wie vom Katapult geschnellt.
Ich lächle und gehe zum Regal, tue, als müsse ich erst nach einer bestimmten Schriftrolle suchen, dabei kenne ich ihren angestammten Platz im Schlaf. Sie gehört zu meinen wertvollsten Schätzen, noch wertvoller ist eigentlich nur der Zauberkristall, den ich während meiner letzten Reise am Rand der Schattenzone erworben habe.
Ich lasse mir Zeit, um seine Ungeduld zu steigern. Soll er zappeln; er darf nicht das Gefühl haben, daß ich ihn brauche, sondern es muß umgekehrt sein.
»Ach, da ist sie ja«, rufe ich aus und fische die Schriftrolle aus dem Regal. Ich behandle sie überaus vorsichtig, denn sie ist unersetzlich. Aber trotz ihres Alters ist sie noch gut erhalten. Das Pergament ist abgegriffen und vergilbt und beidseitig beschrieben. Aber soweit ich es feststellen kann, ist kein einziger Strich verwischt.
Er folgt mir zu dem Tisch an der Wand mit den unberührten Folterwerkzeugen und bringt die Öllampe mit, stellt sie an den Rand der fast versteinerten Holzplatte. Ich höre sein heftiges Atmen. Was erwartet er zu sehen? Ob er enttäuscht sein wird? Oder wird ihn ein Schwindel erfassen und ihn in die Vergangenheit reißen, in eine Zeit, als er noch Caeryll war…?
Ich darf mir nicht zuviel erhoffen.
Ich entrolle das Pergament mit der Seite nach oben, die das Kartenwerk enthält. Dabei beobachte ich ihn. Er macht große Augen, blickte erwartungsvoll auf die Fülle von ineinandergreifenden Linien. Aber je länger er darauf starrt, je mehr ich ihm von der Karte enthülle, desto mehr schwindet seine anfängliche Erregung. Er zeigt Verwirrung, wirkt ein wenig ratlos, auch etwas enttäuscht.
Er blickt zu mir und fragt:
»Wenn du dieses wirre Durcheinander von Linien und Schnörkeln für gorganische Runen hältst, dann bist du im Irrtum. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Man könnte es am ehesten noch für eine bunte Bildersprache halten. Aber in Gorgan schreibt man nicht in Farben und Bildsymbolen.«
»Und sonst sagt dir dieses Dokument nichts?« Jetzt ist die Enttäuschung auf meiner Seite.
Er starrt auf das Pergament und sagt nach einigen Atemzügen.
»Wenn man nicht davon ausgeht, daß es unbedingt eine Ansammlung von Sprachsymbolen ist, dann könnte man es für eine Landkarte halten«, meint er. »Aber ich kenne das darauf abgebildete Land nicht.«
»Es ist eine Karte«, bestätige ich, erleichtert, daß er wenigstens das erkannt hat. Nun, ich muß zugeben, daß ich ihm die Sache auch erschwert habe. Er mußte von der Voraussetzung ausgehen, daß es sich um ein Schriftdokument handelt.
»Eine Landkarte von Ganzak?« fragt er.
»Ganzak ist auch eingezeichnet«, antworte ich. »Dazu noch Gavanque, Naudron - alle Inseln und Länder, die du bis jetzt von Vanga kennengelernt hast, und dazu noch einige mehr. Sogar der Hexenstern ist darauf zu sehen.«
»Ich… muß dir glauben«, sagt er. »Und was bedeutet dieser Streifen?«
»Das ist das Dämmerland mit der Schattenzone.«
»Und dahinter…?«
Er ahnt es bereits, und ich gebe ihm die Bestätigung.
»Das muß deine Welt sein - Gorgan. Erkennst du nicht einige der dir bekannten Ländernamen?«
Er schüttelt nur den Kopf, und ich fahre fort mit meinen Erklärungen.
»Auf dieser Seite ist ein Ausschnitt von Vanga dargestellt, mit Teilen des Einflußbereichs der Zaem und der Zahda. Und es gibt besondere Hinweise zu Orten, an denen Caeryll war, oder die ihm aus zweiter Hand bekannt waren. Vor dir liegt die Welt, wie aus einem Ballon gesehen, nur aus einer Höhe, in die ein Ballon nie gelangen kann.«
Er schaut und schaut, er kann sich nicht sattsehen. Aber seine Verwirrung hält an. Schließlich meint er versonnen:
»Irgendwie kommt mir das alles allmählich bekannt vor. Ich bilde mir ein, ähnliche Kartenwerke schon einmal in zwei Fixpunkten des Lichtboten gesehen zu haben: in der Gruft der Gwasamee und am Grabmal des Lichtboten in Logghard. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich mag es mir auch nur einbilden. Du mußt wissen, daß ich kein Kartenleser bin.«
Ich tippe mit dem Zeigefinger an eine Stelle des Pergaments, die einen Ort der Nordwelt zeigt.
»Aber diese Namen müßten dir bekannt vorkommen. Kannst du sie nicht lesen?«
Er schüttelt den
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