Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
werden, bereit, dafür zu einem späteren Zeitpunkt einen derart hohen Preis zu zahlen?
Das sind die Tatsachen. Und doch fällt es schwer, sie anzuerkennen, weil sie unangenehm sind, uns unserer Illusionen berauben und dem widersprechen, was uns von Diät-Befürwortern seit Jahrzehnten gepredigt wurde. Wenn ich bei Vorträgen an diesen Punkt komme, gibt es immer eine intensive Reaktion im Publikum. Ich nehme sie als eine Mischung aus fragendem Staunen, Verunsicherung bis hin zu Ablehnung wahr und werde häufig nach speziellen, meist sehr bekannten Diäten gefragt – ob das denn auch für diese Programme gelte? Oder ob die vom Arzt verordnete Abnehmkur denn auch derartige Nebenwirkungen habe?
An dieser Stelle ist es hilfreich, die Perspektive zu wechseln: Was ist das Wesen der Diätprogramme, die wir kennen, empfohlen bekommen und anwenden? Derartige Programme sowie kalorienreduzierte Lebensmittel werden seit über vierzig Jahren in den Industrienationen als Abnehmhilfen propagiert. In dieser Zeit ist eine riesige Abnehmindustrie entstanden, bestehend aus Pharma-Unternehmen, die Schlankheitspräparate verkaufen, Lebensmittelkonzernen, die kalorienarme und zuckerfreie Produkte vermarkten, Diätautoren, die an Bestsellern verdienen, multinationalen Unternehmen, die exklusive Abnehmprogramme und Kurse anbieten, Medien, die mit Diätthemen Auflage oder Einschaltquote generieren, und Ernährungsberatern, Ärzten und anderen Experten, die mehr oder weniger beratend in diesem System tätig sind und häufig als Lieferanten für Pro-Abnehm-Argumente dienen. Mit anderen Worten: Diäten sind zunächst einmal ein Geschäft, mit dem Milliarden verdient werden. Und wie bei jedem Geschäft geht es darum, ein Produkt attraktiv zu machen und an möglichst viele Kunden zu verkaufen. Im Diäten-Business spielen drei Illusionen dabei eine wichtige Rolle.
Keine Frage der Willensstärke – warum Diäten wirklich scheitern
Erstens die Illusion, dass jeder abnehmen kann, der den nötigen Willen aufbringt. Und – zweitens – die Illusion, dass man nur die richtige, also passende Diät finden muss. Das ist geschickt und perfide zugleich. Geschickt, weil es gleich zwei Begründungen für das Scheitern von Diäten liefert und die Suche nach neuen Diäten zum Geschäftsmodell macht – nach dem Motto: »Mensch, du warst zu schwach oder hast die richtige Diät noch nicht gefunden. Mach weiter und such weiter, beim nächsten oder einem der nächsten Male wird’s schon klappen …« Perfide, weil Schuldgefühle erzeugt werden. Jeder, der schon einmal eine Diät abgebrochen hat, kennt dieses Gefühl des Versagens. Schlimmer noch: Wer sich einer Diät unterzieht, hat meistens »Mitwisser« oder »Unterstützer« – einen Arzt, die Selbsthilfegruppe, Freunde, Kollegen, den eigenen Partner. Das Versagen wird somit quasi öffentlich. Rechtfertigungsdruck entsteht dann schnell und nicht selten auch Vorhaltungen: »Warum bist du so schwach …?«
Wer sich in solch einer Situation verteidigen will, dem fehlten bislang die Argumente. Dabei ist alles eigentlich ganz einfach und offensichtlich. Und ich gebe es hiermit gern jedem schriftlich:
Alle Diäten sind zum Scheitern verurteilt. Und schuld daran ist nicht der Mensch, schuld ist immer die Diät!
Und damit kommen wir zu Illusion Nummer drei: dem Vorher-nachher-Effekt. Wir kennen diese Bilder aus Zeitschriften, Werbeanzeigen oder entsprechenden TV -Formaten: Das »hässliche«, weil dicke Entlein wird mit Hilfe kompetenter Diät-Experten in einen schlanken Schwan verwandelt. Klar, dass das nicht jedem gelingen kann. Es scheint aber immerhin möglich, dass die richtige Diät, gepaart mit Disziplin, tatsächlich zu einem neuen schlankeren Ich führt. Doch dies ist ein Trugbild, das keiner realistischen Betrachtung standhält. Das zeigt allein schon die aktuelle Statistik. Daraus geht hervor, dass 75,4 % der Männer und 58,9 % der Frauen in Deutschland als »übergewichtig« eingestuft werden ( BMI größer als 25 ) und sich die Zahl der Kinder mit »Adipositas« in den vergangenen zwölf Jahren nahezu verdreifacht hat – obwohl sich die Ausgaben für Diäten und Diätprodukte im gleichen Zeitraum vervielfacht haben. Um das ganze Ausmaß des Scheiterns der Diät-Industrie und ihrer falschen Versprechungen deutlich zu machen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Diätbemühungen die Gewichtszunahme langfristig sogar eher befördern statt zu reduzieren. Auf diesen Punkt kommen wir später
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