Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
sich um eine Art Unterzuckerung des Nervensystems. Ein Versorgungsengpass mit Zucker (Glukose) – dem unverzichtbaren Energiebringer des Gehirns – führt zu gezielten Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Gehirns. Einfach gesagt: Es wird im Gehirn nach und nach abgeschaltet, was Energie (also Zucker) verbraucht, aber nicht unbedingt lebensnotwendig ist. Der Sexualtrieb ist oft das erste Opfer, dann erwischt es Konzentration und Wachheit. Müdigkeit und starker Drang zum Schlafen können typische Merkmale einer Neuroglukopenie sein, weil das Gehirn im Schlaf bis zu 40 Prozent Energie gegenüber dem Wachzustand einsparen kann. Doch nicht nur die Leistungsfähigkeit des Gehirns war bei den Testteilnehmern in Minnesota beeinträchtigt. Es kam darüber hinaus zu folgenden organischen Störungen: Herzmuskel- und Skelettmuskelschwund, Muskelschwäche und extrem schnelle Erschöpfbarkeit, Haarausfall, Hautverdünnung, Blutarmut. Aber: Die Gehirngröße blieb wieder einmal verschont! Wie wir schon beim Stress gesehen haben, entsteht die allostatische Last dadurch, dass das Gehirn die Energie, die für viele Organfunktionen jeweils benötigt wird, einfach nicht bereitstellen und freigeben kann.
In der Schlussphase wurde die Ernährung schrittweise wieder auf das ursprüngliche Niveau angehoben. Ende Dezember 1945 – kurz vor Weihnachten – war das Experiment beendet, und die Teilnehmer wurden nach Hause entlassen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Daten dauerte Jahre. Erst 1950 wurde der Abschlussbericht in Buchform veröffentlicht. Auf mehr als 1500 Seiten legten die Wissenschaftler unter der Leitung von Ancel Keys dar, welche Erkenntnisse sie aus dem Hunger-Experiment gewonnen hatten.
Abnehmen durch hungern – wie viele Kalorien Diäten konkret verweigern
Bei den Testkandidaten in Minnesota wurde sechs Monate lang die Kalorienzufuhr um 50 Prozent gesenkt, und es kam – wie oben beschrieben – zu extremen Nebenwirkungen, die vor allem das Gehirn und die Psyche betrafen.
Letztlich war das Minnesota-Hunger-Experiment nichts anderes als eine radikale Abnehmkur. Was sagen die damals gewonnenen Erkenntnisse also über Diäten aus? Inwieweit lassen sich die beobachteten Auswirkungen des Experiments zum Beispiel mit den zu erwartenden Nebenwirkungen bei einem x-beliebigen Abnehmprogramm einer Frauenzeitschrift vergleichen?
Die Kaloriensenkung gängiger Diätprogramme lässt sich leicht mit Hilfe der so genannten Harris-Benedict-Formel und mit den veröffentlichten Diät-Kalorienangaben berechnen und beträgt beispielsweise für eine 30 -jährige Frau ( 90 kg, 1 , 71 m, mit Bürotätigkeit, ohne Sport, Gesamtenergieverbrauch 2540 kcal/d):
37 Prozent bei der Fit-for-Fun-Diät
53 Prozent bei der Brigitte-Diät
69 Prozent bei der BCM -Formula-Diät
Gezügelte Esser reduzieren die Kalorienmenge, die sie zu sich nehmen, im Schnitt um 15 Prozent – das allerdings meist nicht nur sechs Monate, sondern oft jahrelang. Überträgt man die Effekte des Hunger-Experiments auf den Umfang des Kalorienentzugs bei gängigen Abnehmprogrammen und passt sie an, kommt man auf ähnliche Begleitsymptome wie in Minnesota: Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen, Konzentrationseinbrüche, Libidostörungen, Erschöpfungszustände, depressive Verstimmungen. Tatsächlich belegen neue klinische Studien, dass gezügelte Esser im Vergleich zu Kontrollpersonen erhöhte Cortisolwerte im Blut haben, in den unterschiedlichsten kognitiven Tests schlechter abschneiden, häufiger an Depression leiden, eine verminderte Knochenmasse und häufigere Menstruationsunregelmäßigkeiten aufweisen und letztlich sogar Hinweise für vorzeitiges Altern zeigen (Verkürzung der Chromosomen-Länge).
Allerdings kann die Intensität dieser Nebenwirkungen von gezügeltem Essen sehr unterschiedlich ausfallen beziehungsweise wahrgenommen werden. Überhaupt ist die Selbstwahrnehmung ein ganz wichtiger Aspekt. Wer über einen längeren Zeitraum seine Nahrungsaufnahme einschränkt, wird wahrscheinlich die damit einhergehende Gefühlslage zwar als unangenehm empfinden, sich aber irgendwann daran als eine Art Ist-Zustand gewöhnen; das heißt, es wird für den Betroffenen selbst immer schwieriger, einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen – also beispielsweise, dass Reizbarkeit oder mangelnde sexuelle Lust mit der ungenügenden Verfügbarkeit von Kalorien im Körper zu tun haben könnten.
Gezügelte Esser sind gestresst und hungrig – und das
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