Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
Größenordnung sind schwer zu realisieren, weil die Kosten enorm sind. Umso größer muss die Enttäuschung bei den Beteiligten des Forschungsprojekts gewesen sein: Statt einer Bestätigung der Vermutung, dass Abnehmen durch gesunde Ernährung plus Sport das Leben verlängert, hatten sich die Maßnahmen als wirkungslos herausgestellt; denn in der Abnehm-Gruppe traten im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht weniger Herz-Kreislauf-Probleme und Todesfälle auf. Der therapeutische Effekt war gleich null. Im September 2012 brachen die US -National Institutes of Health die Studie wegen Nutzlosigkeit ab. Doch letztlich bestätigt das Ergebnis der Look-Ahead-Studie nur, was andere Forschungsarbeiten zuvor gezeigt haben: dass Abnehmen kein Ausweg aus der »ungesunden Stressfalle« ist.
Die Look-Ahead-Studie steht für das grandiose Scheitern der Strategie, durch Abnehmen die menschliche Gesundheit zu verbessern. Doch was würde passieren, wenn wir die umgekehrte Richtung einschlügen? Also nicht den Körper durch Diäten zur Gewichtsreduktion zu zwingen, sondern stattdessen einen Weg aus der Stressfalle zu suchen, um so natürlich abzunehmen?
Raus – einfach nur raus …
Erinnern wir uns noch einmal an die Frauen aus Boston, Chicago, New York und anderen US -Metropolen. Ihr Haifischbecken – das war die sozial zerrüttete und gefährliche Nachbarschaft, die kaum Jobs und kein gesichertes Einkommen ermöglichte. Sie zogen mit Hilfe öffentlicher Unterstützungsmaßnahmen in eine bessere, stabilere Gegend um, und auch in ihrem Inneren trat in der Folge eine Stabilisierung ein: Ihr Stresssystem konnte sich beruhigen, weil die Stressoren – die Haie – aus ihrem Leben verschwunden waren. Ein deutlich sichtbares Symptom dieser äußeren wie auch inneren Veränderung zeigte sich in der Stabilisierung des Wohlbefindens und des Körpergewichts der Frauen im Vergleich zu denen, die in ihren prekären Lebensumständen zurückblieben. Diese Studie belegt eindrucksvoll, welches Potenzial darin steckt, das jeweilige Haifischbecken zu verlassen.
Natürlich sind Armut und soziale Enge lediglich ein – wenn auch sehr starkes – Umfeld, das von psychosozialen Stressoren bestimmt wird. Letztlich können die Haie überall sein – auch in »Gewässern«, die wesentlich friedlicher erscheinen. Wie alle Räuber herrschen sie über ihr Revier, und wer darin lebt, wird von ihnen unweigerlich kontrolliert. Darin liegt das Wesen des psychosozialen Stressors: Er gewinnt dann die Oberhand, wenn er das Stresssystem des Menschen, der mit ihm konfrontiert wird, dominiert. Im Extremfall geht das so weit, dass ein Mensch in einer solchen Situation nach und nach immer weitere Bereiche seines Lebens an den Stressor oder die Stressoren abgibt. Er verliert schleichend die Kontrolle über sein Leben; und sein Stresssystem, das ständig in Alarmbereitschaft ist, läuft auf Hochtouren. In den meisten Fällen ist es nicht möglich, mit menschlichen Haien zu verhandeln und auf Einsicht oder Besserung zu hoffen. Es ist Teil ihres Wesens, dass sie meist aus einer Position der Stärke und Überlegenheit heraus agieren. Also versuchen wir, ihnen aus dem Weg zu gehen. Dahinter steckt ein Wunsch, der – so legitim er ist – sich in den allermeisten Fällen nicht realisieren lässt, nämlich dort zu bleiben, wo wir sind, und eine Lösung zu finden, die es uns ermöglicht, zum Beispiel den stressreichen Job zu behalten und trotzdem das Stresssystem wieder in die Ruhelage zu bringen. 3 Leider lassen sich solche Stressoren aber weder wegreden noch besänftigen, genauso wenig wie bei einem realen angriffslustigen Hai in einem echten Ozean, der einen Schwimmer umkreist. So können wir meistens den Stressor nicht besiegen, sondern uns lediglich habituieren – als B-Typ mit Gewichtszunahme und einer Dämpfung des Stresssystems oder als A-Typ, der immer stärker unter Strom gerät und aufpassen muss, dass er nicht ausbrennt. Einfach gesagt: Wenn es um psychosoziale Stressoren geht, können wir nicht aus unserer Haut.
In der berühmten »Dreigroschenoper« heißt es in der »Moritat von Mackie Messer«:
Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und MacHeath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht
Im Liedtext zieht der Autor Bertolt Brecht eine interessante Parallele: Er vergleicht den skrupellosen Kriminellen, genannt »Mackie Messer«, mit einem Hai – allerdings mit dem Unterschied, dass der Hai seine Gefährlichkeit offen zeigt,
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