N. P.
lassen, stieg irgend etwas in mir hoch und schnitt mir ins Herz. Aber zu weinen hielt ich für unangebracht.
»Trotzdem«, sagte Sui und lachte. »Du meinst, ich soll es abtreiben lassen – wenn ich das tue, kommst du aber mit!«
»Selbstverständlich!« sagte ich. »Es ist wahrscheinlich wirklich das beste – du mußt das sowieso erst mit Otohiko besprechen, wenn er nach Hause kommt …« – leider konnte ich wieder vor Lachen nicht an mich halten – »vom Zelten!«
»Ja, genau, vom Zelten.« Auch Sui mußte lachen. Dieses Wort! In Anbetracht unseres Gesprächsthemas, Otohikos Alter und der Situation konnte kein unpassenderes fallen! Von nun an bis in alle Ewigkeit würden wir uns wohl jedesmal beim Stichwort »Zelten« an diesen Tag erinnern und losplatzen.
»Der Tag heute ist eh gelaufen. Willst du nicht was essen?« fragte Sui.
»Essen? Ja, okay. Gehen wir in ein Restaurant?« sagte ich. »Ach nein, dir könnte wieder schlecht werden. Sollen wir was kochen?«
»Ich hab zwar nur Brot und Suppe da, aber bleibst du trotzdem zum Essen?« sagte Sui mit dem zuckersüßesten Augenaufschlag der Welt. Mir war, als hätte sie irgendwie Mitleid mit mir. Diese Augen – voller Barmherzigkeit.
» Du hast gekocht?« fragte ich und machte ein angewidertes Gesicht.
»Ja. Ich hab selbstverständlich mit Gift gewürzt«, sagte Sui und lachte.
»Ich probiers mal!« Ich ließ mich also darauf ein. Nach einer Weile tischte Sui dickes Beef Stew mit deftigem Roggenbrot und Gurkensalat auf.
»Sieht doch gut aus!« sagte ich.
»Ist es auch!« meinte sie triumphierend.
»Und du, Sui – ißt du nichts?« fragte ich.
Da lachte sie ein bißchen und sagte: »Ich hab tatsächlich meinen Appetit verloren. – Hast du mich übrigens gerade beim Namen genannt?«
»Wie?«
»Hast du ›Sui‹ gesagt?«
»Ja, ohne besondere Absicht«, antwortete ich.
»Aus deinem Mund hörte sich mein Name irgendwie anders an, wie der von etwas Gutem«, sagte sie.
Das Essen war lecker. Ich schmierte ganz viel Butter aufs Brot und aß alles auf. Derweil kauerte Sui auf dem Boden vorm Fernseher und nippte an ihrem Bier. Irgendein ungutes Gefühl verfolgte mich trotzdem. Das Zimmer war zu still. Der Abend zu lang. Der Fernsehton zu klar – er ließ einen frösteln. Irgend etwas stimmte nicht. Mit meinen Gefühlen, dem Fluß der Zeit, dem realen Raum. Im Vergleich zum ersten Mal, als ich sie getroffen hatte, war Sui viel zu klein.
Wer hätte schon gedacht, daß tatsächlich Gift im Essen war!
Das nächste, an das ich mich erinnern konnte, war der Gedanke: »Die faßt mich aber ganz schön brutal an!« Sie schleifte mich über den Boden. Mein Körper war schwer, bewegen konnte ich mich nicht, auch meine Zunge gehorchte mir nicht. Je angestrengter ich versuchte, die Augen aufzumachen, desto schwerer wurden mir die Lider, als würden sie mit Gewalt zugedrückt. Trotzdem, ich wollte sehen, was passierte.
Unbedingt.
»Verzeih mir«, sagte Sui leise und lachte dabei ein bißchen. Ich hörte es wie aus weiter Ferne. Sie packte mich bei den Fußgelenken, ich fühlte, wie ihr Griff mir ins Fleisch schnitt. Sie lachte und schien selbst gar nicht zu bemerken, daß ihre Hände mir das genaue Gegenteil verrieten. Deutlich teilten sie mir eine Botschaft mit, nicht mit Worten, sondern – wie damals als Kind – durch einen starken Farbstrom, der mir in großen Wellen die Beine hinaufspülte. Er war von einem tiefen Purpur, das mich umklammerte – so stark, daß ich meinte, erwürgt zu werden.
»Hilfe! Hilfe!« schrie es, immer und immer wieder.
Sie will sich umbringen, war mir instinktiv klar. Ihre Müdigkeit war viel stärker, als es den Anschein gehabt hatte. Wie bei Shōji. Alles fügte sich zu einem Bild zusammen. Deshalb versuchte ich ihr zu sagen:
»Du darfst nicht sterben!«
Aber ich bekam kein Wort heraus. Tatsächlich, genau wie an jenem Tag als Kind. Nur ein winziger Ton konnte sich meiner Kehle entringen:
»… ster …«
»Wie kommst du denn darauf?« sagte Sui. Sie war mir unheimlich. Meine Füße hatte sie losgelassen, aber auch ohne Körperkontakt kamen ihre Gedanken bei mir an:
Weshalb bin ich überhaupt geboren worden?
Nur um jetzt das hier erleben zu müssen?
Mit Otohiko ist alles zu Ende, Schluß.
Aus und vorbei. Nach so langer Zeit …
Ihr Herz, zerrissen und zerstückelt wie ein Flickenteppich, begann sich auf das eine Wort »Tod« hin auszurichten. Mit unheimlicher Energie, völlig geräuschlos.
»Mach keinen Quatsch,
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