Nach alter Sitte
hoffte er ohnehin, nichts zu finden, auch wenn er sich damit den Zorn der Kock zuziehen würde. Er wies zum Küchenturm, wo eine schmale Treppe hinaufführte. Dort hatte er schon einmal ein Mordopfer gefunden. Jetzt war dort nichts zu entdecken. Die Innenseiten der Mauern rings umher waren ebenfalls nackt und boten den üblichen vertrauten Anblick. Die beiden gingen quer über den Platz zum anderen Eckturm, der nach Westen gewandt war. Oben angekommen, spürte Lorenz, wie kühl der Nachtwind war, wenn er über das alte Gemäuer hinwegging. Doch auch am Turm war nichts Auffälliges zu entdecken. Unten sahen sie Paul und Rita, die gerade um die Ecke bogen und an der hohen Mauer des ehemaligen Rittersaales entlang weitersuchten. In der Ferne, auf der anderen Seite des Rurtals, blinzelten matt die Lichter der Ortschaften, die noch im Nachtschlaf lagen. Bei Schmidt waren die Positionslichter der Windräder zu sehen.
Lorenz wandte sich von diesem Anblick ab, um schleunigst wieder die Treppen hinab in den Burghof zu steigen. Sie gingen die Reihe der glaslosen Kreuzfenster ab, die im Mittelalter einen der größten Festsäle in deutschen Landen geschmückt hatten. Auch dort war kein Eisenkorb befestigt worden. Als sie ihre Runde im Burghof beendet hatten, stießen auch Rita und Paul wieder zu ihnen. Etwas außer Atem, denn die zurückgelegte Strecke war nicht eben gering gewesen.
»Nichts«, keuchte Paul. »Gar nichts.«
»Habt ihr auch wirklich genau hingeschaut? Ihr wart so schnell«, fragte Lorenz.
»Klar haben wir genau hingeschaut«, meinte Rita. »Natürlich wäre es in der Dunkelheit noch einfacher gewesen, wenn wir genau wüssten, wie so ein Schandkorb aussieht.«
»Das könnte ich euch zeigen«, meinte Lorenz. »Hier vorne im Jenseitsturm befindet sich das Burgenmuseum, darin wird ein Schandkorb ...« Er stockte.
»Was?«, fragte Rita. »Hier befindet sich ein solcher Schandkorb? Warum bist du denn nicht früher darauf gekommen? Da hätten wir doch zuerst gesucht.«
Lorenz wusste nicht, was er antworten sollte, und wies stattdessen nur stumm auf den Treppenaufgang, wo ein Schild den Eingang des Museums kennzeichnete. Ella Kock schaltete als Erste und lief los. Oben angekommen, rief sie den anderen zu: »Diese Tür ist offen!«
Rita und Paul eilten zu ihr, Lorenz folgte, so schnell er konnte. Sie traten ins Museum, die Lichtkegel der Taschenlampen leuchteten den engen, steilen Gang aus. »Nichts anfassen«, mahnte Rita. »Opa, wo genau finden wir diesen Käfig?«
»Einfach weiter durchgehen, hinter der Kasse rechts halten«, antwortete Lorenz. Sie gingen weiter in den Turm hinein. Das Gemäuer war kühl, es roch etwas staubig und nach altem Stein. Lorenz hatte das ungute Gefühl, hoffen zu müssen, hier nichts Grässliches zu entdecken. Dann traten sie in den Raum, wo er den Schandkorb wusste. Er wies auf die Stelle, die jedoch leer war. »Hier müsste er stehen, soweit ich weiß«, sagte er. »Ich war länger nicht mehr hier drin. Vielleicht hat man ihn woanders platziert.«
»Aber nicht sehr weit weg«, sagte Ella Kock und wies mit dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf die gegenüberliegende Wand, wo sich der Korb befand. Ob etwas in dem Korb war, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Jedoch leuchtete im Lichtkegel etwas weiß auf, das aus dem metallenen Geflecht herausragte. Alle vier hatten die gleiche Ahnung, um was es sich da handeln könnte, und als sie nähertraten, wurde es zur Gewissheit. Eine menschliche Hand hing schlaff und regungslos aus dem Metallkorb heraus. Die Hand gehörte zu einem nackten Arm und dieser zu dem ebenfalls nackten Körper einer Frau. Lorenz spürte, wie das Grauen von ihm Besitz ergriff, als er erkennen konnte, dass der Kopf der Frau mit Folie umwickelt war. Die weichen Gesichtspartien waren dadurch zusammengepresst worden, sodass die Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt erschienen. Rita wies Lorenz mit einer bestimmenden Geste an, zurückzubleiben, und ging dann selbst nah an den Käfig heran. Paul und Ella traten neben sie, sodass Lorenz nichts mehr sehen konnte. Diesmal war er darüber sehr froh. Bange Sekunden vergingen.
»Und?«, fragte er ängstlich. »Lebt sie noch?«
»Keine Chance«, sagte Ella Kock mit bemüht eiskalter Stimme. »Das arme Mädchen ist tot.«
22. Kapitel
Die Stimmung am Frühstückstisch war gedrückt, nachdem Lorenz von dem nächtlichen Fund erzählt hatte. Bärbel, Gustav und Alexander lauschten schweigend der Schilderung des
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