Lorenz damit rechnen, dass Alexander Grosjean dort sein würde. So fiel der Freund für ihn aus. Bärbel? Nein, auch wenn sie befreundet waren, man ging nicht mitten in der Nacht zu einer Frau auf ihr Zimmer. Sicher würde sie ohnehin friedlich schlafen. Natürlich würde sie ihm nicht böse sein, wenn er ihr eröffnen würde, dass er Zuspruch brauchte in dieser trostlosen Nacht. Ganz im Gegenteil. Aber davon war Lorenz dennoch weit entfernt. Das war nie seine Art gewesen und würde es auch nie sein.
Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich an den Schreibtisch. Der Rechner lief die ganze Zeit. Er hatte sich daran gewöhnt, immer wieder einmal, wenn er über etwas nachdachte, im Internet nach diesem oder jenem Stichwort zu suchen. Er tippte »Ambiorix« ein und sah sich die Trefferliste an. Die Suchergebnisse der ersten Seite kannte er alle schon. Die auf der zweiten Seite auch. Dann tippte er »Gerda Bertold« in das Suchfeld und ließ sich die gefundenen Bilder zu diesem Suchbegriff anzeigen. Natürlich sah er kein bekanntes Gesicht. Er schalt sich einen Narren, so etwas überhaupt einzugeben. Er wollte schon aufstehen und noch einmal versuchen, sich ins Bett zu legen, als ein heller Signalton ihm den Eingang einer Email anzeigte. Eine Sekunde später sah er diese dann auch schon auf dem Bildschirm. Er klickte die Meldung an und las die sich öffnende Nachricht:
Mein Volk hat einmal mich befreit. Ob Opa Bertold ebenso gescheit?
Lorenz las diesen Satz noch einmal und dann noch ein drittes Mal. Er hatte immer noch Gerda im Kopf und dachte unwillkürlich daran, dass sie irgendwo darauf wartete, befreit zu werden. Doch dann riss er sich von diesem irren Gedanken los und las den Absender der Email:
[email protected] Er hatte Ambiorix erwartet. Nun musste er umdenken. Alveradis von Molbach. Diesen Namen kannte er, es war die Gattin des berühmten »Starken Wilhelm«. Erst schrieb ihm jemand Nachrichten unter dem Namen eines antiken Keltenführers, nun als mittelalterliche Gräfin. Molbach, das war der alte Name von Maubach, dem kleinen Ort am Rurstausee. Dort hatte man der Alveradis ein Denkmal gesetzt. Sie war beliebt gewesen beim Volk. Dieses hatte sie befreit. Und in welcher Weise sollte er gescheit sein? Ein Rätsel? War hier wieder der Mörder am Werk, der ihn auf die Probe stellen wollte? Lorenz schloss die brennenden Augen, spürte die Müdigkeit. Was hatte das zu bedeuten? Und warum schrieb der Unbekannte ihm diese Nachricht des Nachts? Wusste er etwa, dass Lorenz nicht schlafen konnte? Oder litt er selbst an Schlaflosigkeit? Der Alte schüttelte den Kopf. Das alles waren Fragen, auf die es keine Antwort geben konnte. Doch Antworten waren gefragt, mehr denn je. Denn diese neue Nachricht hatte sicherlich nichts Gutes zu bedeuten. Lorenz nahm sich nochmals die erste Nachricht vor, die er von Ambiorix erhalten hatte. Ich war ein Großer meines Volkes, doch musst ich mich dem Größern beugen. So ging es deiner Tochter auch, so wird es bald auch dir ergehn. Ambiorix .
Dies war keine Frage, kein Rätsel, sondern eher eine Drohung. Was hatte man beim toten Naas für eine Nachricht hinterlassen? Zu viel hat er sich vorgenommen. Der Schmied ist ihm zuvorgekommen. Warum der Alte sterben musst? Hat Opa Bertold es gewusst?
Das war eine offene Frage an ihn selbst, die der Mörder ihm gestellt hatte. Und nun? Lorenz las sich die Nachricht laut vor: Mein Volk hat einmal mich befreit. Ob Opa Bertold ebenso gescheit?
Etwas war wieder anders. Was, das konnte Lorenz nicht genau sagen. Er murmelte: »Der alte Ermittler wusste leider nur zu gut, dass Schlaflosigkeit nicht gleichbedeutend war mit Wachheit. Irgendetwas musste ihm dieser Satz sagen, aber er war verdammt müde.«
Er führte sich vor Augen, wer da zu ihm sprach. Natürlich war es ein Schurke, aber er schrieb diesen Satz aus der Sicht der Alveradis. Ihr Volk hatte sie befreit. Lorenz erinnerte sich an die Geschichte. Graf Wilhelm der Zweite ließ seine Gattin Alveradis, die er der Untreue bezichtigte, nackt in einem Schandkorb an die Burgwand hängen. Doch die Bürger von Molbach befreiten die arme Frau, als Wilhelm die Burg verlassen hatte.
Mein Volk hat einmal mich befreit. Ob Opa Bertold ebenso gescheit?
Er sollte ebenso gescheit sein, also wie das Volk von Molbach die Frau aus dem Schandkorb befreien. Lorenz spürte, wie ihm plötzlich heiß wurde. Hastig griff er zum Telefon und wählte per Kurzwahl Ritas Nummer. Er hoffte, dass sie