Nach dem Amok

hat ihn nach diesem einen Mal wie Luft behandelt. Und die Story mit der Wette musste er ja auch irgendwoher haben.«
    Â»Ich glaube, ich kann das erklären«, sagt die Sommersprossige. »Beziehungsweise, ich kenne jemanden, der es noch besser kann.« Sie schaut auf die Uhr. »Mein Bruder wartet vor der Schule auf mich, er holt mich mit dem Auto ab. Er kann dir deine Fragen beantworten.«
    Jenny nickt zu den Worten der Sommersprossigen.
    Â»Es gibt da etwas, das du vielleicht besser wissen solltest«, sagt sie. »Lass es dir meinetwegen von Nicole und ihrem Bruder erklären. Sonst lässt du uns ohnehin nicht in Ruhe.«
    Sie dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort. Ich bleibe mit der Sommersprossigen zurück, die mit dem Kinn in Richtung des Parkplatzes vor der Schule deutet.
    Â»Komm schon.«
    Wir gehen nebeneinander zum Ausgang des Schulhofs. Obwohl wir nicht reden, muss es für Außenstehende so aussehen, als seien wir befreundet oder würden zumindest hin und wieder einen Teil unseres Schulweges gemeinsam zurücklegen. Es klingelt. Ich müsste mich jetzt eigentlich auf den Weg zur Deutschstunde machen.
    Â»Hör zu«, sagt Nicole, während sie auf ein Auto zusteuert, in dem ein junger Mann sitzt, »ich war es, die das mit der Wette erfunden hat, damit David die Finger von Katja lässt. Was da alles passiert ist, ist so dermaßen beschissen. Allerdings kann Ben dir ein paar Sachen erklären. Ich glaube, Katja hätte das so gewollt. Aber damit eins klar ist: Ich mache das nur für Katja, nicht etwa für dich. Ich hätte am liebsten gar nichts mit dir zu schaffen. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun, aber ich kann einfach niemanden ertragen, dessen Bruder eine meiner besten Freundinnen umgebracht hat.«
    Wir sind beim Auto angekommen. Der junge Mann, der maximal zwanzig Jahre alt sein dürfte, wirkt überrascht, als er bemerkt, dass Nicole jemanden mitgebracht hat. Sie setzt sich kurz auf den Beifahrersitz und redet mit ihrem Bruder, der mich immer wieder durch die Windschutzscheibe mustert, nicht ärgerlich, eher bedauernd, aber ohne Mitleid. Es ist ein Blick, der mich weder verurteilt noch als jemanden abstempelt, mit dem man Mitleid haben muss.
    Nicole steigt aus dem Auto, um dann hinten wieder einzusteigen. Sie steckt sich die Ohrstöpsel ihres MP3-Player in die Ohren und überlässt ihrem Bruder alles Weitere. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz und schaue Ben kurz an. Er hat rote Haare und ebenso viele Sommersprossen wie Nicole; wahrscheinlich ist Rot auch ihre Naturhaarfarbe.
    Â»Hi«, sagt er.
    Â»Danke, dass du dir die Zeit nimmst.«
    Â»Kein Ding. Ist wohl überfällig, dass du ein paar Sachen erfährst.«
    Â»David hat Katja geliebt«, beginne ich, meine Stimme versagt, und ich überlege, ob er sie auch noch geliebt hat, als er die Waffe auf sie richtete. Wie kann man jemanden töten, den man liebt …
    Â»Und sie ihn auch«, sagt er. »Das ist ja das Schreckliche.«
    Es klingelt zum zweiten Mal, die Deutschstunde beginnt ohne mich.
    Â»Dass dein Bruder erpresst wurde, weißt du?«
    Â»Ja, seit Kurzem.«
    Â»Katja wusste es damals schon. David hat es ihr nicht erzählt, er wollte sie offenbar schützen, aber sie hatte es irgendwie rausbekommen. Und sie hat ihm wiederum nicht gesagt, dass sie es weiß. Sie hat Nicole um Rat gefragt, was sie tun soll, denn sie wollte David von diesen Typen befreien, ehe sie sich zu ihm bekannte. Hätten die Typen mitbekommen, dass die beiden zusammen sind, dann hätte das denen nur noch mehr Angriffsfläche bei David geboten. Nichts macht dich verwundbarer, als jemanden zu lieben. Außerdem hatte Katja Angst, dass die anfangen würden, auch sie zu drangsalieren.«
    Er legt die Hände aufs Lenkrad und seufzt. Ich vermute, dass er an jemanden denkt, wegen dem er selbst verwundbar ist. Auf der Rückbank drückt Nicole auf ihrem MP3-Player herum. Die Rhythmen dringen bis zu uns nach vorn. Vorher lief ein langsamer Song, jetzt hat sie etwas Schnelleres ausgesucht.
    Â»Ich bin früher auch aufs Albert-Einstein gegangen«, sagt Ben.
    Er starrt durch die Scheibe hindurch auf das Schulgebäude. Ich werde wieder an meine Deutschstunde erinnert und räuspere mich vorsichtig. Ben wacht aus seinen Träumereien auf.
    Â»Also, jedenfalls hat Nicole Katja geraten, David nicht mehr zu treffen, bis die Sache geklärt ist,