Nach dem Amok
ich ihr Angebot mit dem gemeinsamen Lernen annehmen sollte. Es würde ihr nicht guttun. Aber vielleicht würde es mir guttun. Es ist wieder die gleiche Situation wie vorhin auf dem Friedhof: Was mir guttut, könnte einem anderen schaden. Und wenn ich mich schon bei David gegen das entschieden habe, was mir gutgetan hätte, warum sollte ich es bei Charlotte anders handhaben. David ist tot und kann mich wahrscheinlich nicht einmal mehr hören. Charlotte lebt. Und ich bin irgendwo dazwischen.
Jannik hat zwei Tage lang nicht mit mir gesprochen und war in den Pausen selten auffindbar. Je länger er sich nicht gemeldet hat, desto unruhiger wurde ich. Beim Gedanken daran, auch ihn zu verlieren, bin ich fast durchgedreht.
Am dritten Tag habe ich ihm eine SMS geschickt: Ich vermisse dich. Am nächsten Morgen ist er in der Pause auf mich zugekommen und hat mich in den Arm genommen. Seither sehen wir uns wieder in den Pausen, aber er wirkt distanziert, fast misstrauisch. Immer wieder bemerke ich, wie er mich beobachtet, als wolle er meine Gedanken lesen. Ich habe mich sogar dazu überwunden, Nicole zu bitten, Jannik die Situation zu schildern, in der das Handyfoto von Ben und mir entstanden ist, aber sie wollte in nichts hineingezogen werden. Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mir nichts schuldig ist. Also hat Jannik nur mein Wort, dass ich ihm die Wahrheit gesagt habe, und eine verrückte Geschichte über Erpresser, Liebe und Missverständnisse, an deren Ende David und Katja tot sind und sein bester Freund gelähmt ist. Ich würde mir das an seiner Stelle wahrscheinlich auch nicht glauben.
Nach der fünften Stunde, meiner ersten an diesem Tag, treffe ich Jannik auf dem Flur. Er umarmt mich kurz und wie ein entfernter Bekannter.
»Wo warst du denn heute morgen?«, fragt er, und es klingt, als wolle er am liebsten hinterherschicken: Bei deinem Ben?
»Auf dem Friedhof«, antworte ich.
Habe ich zu lange mit der Antwort gezögert und mich so bereits verdächtig gemacht? Jannik runzelt die Stirn.
»Wieso gehst du da hin, wenn Schule ist?«
»Zu dieser Zeit sind weniger Leute dort.«
Er nickt und seufzt. Er scheint mir zu glauben. Obwohl ich die reine Wahrheit sage, fühle ich mich wie eine Lügnerin.
»Jannik, kommst du?«, ruft Marc zu uns herüber.
Ich sehe Jannik fragend an. Sein Lehrer ist noch nicht da.
»Ich habe Marc versprochen, ihm noch kurz eine Aufgabe aus der letzten Stunde zu erklären«, sagt er.
»Okay. Sag mal, wollen wir uns vielleicht heute Nachmittag treffen?«
»Ich muss nach der Schule noch in die Stadt, ein paar Sachen besorgen. Wir können uns gern sehen, aber erst heute Abend.«
»Kann ich nicht mitkommen in die Stadt?«
»Ach, das würde dich nur langweilen. Mach deine Hausaufgaben und ruh dich ein bisschen aus, bis ich komme.«
»Ja, Papa.«
Es soll lustig klingen, aber Jannik verzieht den Mund in die falsche Richtung. Dann gibt er mir einen flüchtigen Kuss und geht in sein Klassenzimmer. Kaum ist er verschwunden, steuert Sandra auf mich zu. Die hat mir gerade noch gefehlt.
»Na, alles frisch?«
Was für ein selten dämlicher Spruch. Der ist sogar für Sandras Verhältnisse richtig bescheuert.
»Alles super, seit mich niemand mehr in irgendwelche Räume einsperrt.«
»Ja, das war schon eine nette Idee, nicht wahr? Dass wir dir gesagt haben, du sollst die Tafel wischen, und dem Kettner erzählt haben, es sei keiner mehr im Saal.«
Wir. Natürlich, Patrick hat bei der Sache mitgemacht! Ich hätte mir eigentlich denken können, dass er daran beteiligt war, immerhin war er derjenige, der mich dazu gebracht hat, im Saal zu bleiben. Und er hat auch das Handyfoto an Jannik geliefert. Ich habe mich viel zu sehr auf Sandra eingeschossen. Bei der Vorstellung, welche Kreise ihre Intrige mittlerweile zieht, wird mir übel. Ich fühle mich so hilflos gegenüber dem Gift, das sie überall verspritzt und das bei den anderen immer stärker wirkt. Zugleich ärgere ich mich, dass niemand mitbekommen hat, was sie da eben zugegeben hat. Gerade hat sie mir alles gestanden und es nützt mir gar nichts. Es hält sich niemand in unserer Nähe auf und sie hat sehr leise gesprochen. Und ich habe den iPod, mit dem ich alles hätte aufnehmen können, im Klassenzimmer gelassen.
»Solche Aktionen werden euch nichts nützen«, sage ich. »Auch das
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