Nach dem Amok
ich es sogar tun, vielleicht hätte ich heute den Mut dazu, vielleicht wäre heute der Moment, in dem ich es riskieren würde, wegen jener Sekunden, in denen meine Haut an ihrer sich so echt anfühlte. Aber es gab den Best-Friends-Antrag, und den hat sie der anderen Maike gemacht, der Maike, die keine Amokschwester ist. Und ich habe ihn angenommen. Die andere Maike hat ihn angenommen. Damit ist es besiegelt. Jene Maike, von der ich Kim nie erzählt habe, hat aufgehört zu existieren. Es gibt kein Zurück mehr.
24
Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Die Blutbuche streckt sich mit ihrer vollen dunkelroten Belaubung über die Gräber. Mit ihr ist es wie mit allem, was man zu beobachten vergisst; es wächst und breitet sich aus, bis man es nicht mehr kontrollieren kann. Wenn man begreift, was passiert ist, dann ist es längst zu spät.
Ich hatte beabsichtigt, erst wiederzukommen, wenn ich etwas hätte vorweisen können, wenn ich Antworten für David gehabt hätte. Ich hatte zurückkehren wollen mit einem Racheplan für die Verantwortlichen, die ihn zu seiner Tat getrieben haben. Jetzt stehe ich hier und habe kaum mehr als das ungefähre Wissen über das, was geschehen ist. Ich kenne die Verantwortlichen, aber ich habe keinen Plan, wie ich Norman, Tobias und Farin überführen soll. Ich habe immer noch Angst, zur Polizei zu gehen. Was, wenn ich nicht ernst genommen werde, was, wenn die Indizien nicht ausreichen, um gegen die drei vorzugehen? Und eine andere Lösung fällt mir nicht ein.
Ich bin heute nur aus einem Grund hier: Ich muss David das mit Katja erklären. Er sollte erfahren, dass sie ihn geliebt hat. Je länger ich allerdings darüber nachdenke, desto unsicherer werde ich. Würde ich das an seiner Stelle überhaupt wissen wollen? Es muss doch eine grauenvolle Gewissheit sein, jemanden getötet zu haben, der dich geliebt hat. Will ich mit der Weitergabe dieser Information nur mein eigenes Gewissen beruhigen, um behaupten zu können, dass ich nicht untätig war, dass ich versucht habe, David gegenüber mein Versprechen einzuhalten und den Dingen auf den Grund zu gehen?
Nun stehe ich hinter seinem Grabstein, unter der Blutbuche, die mich halbwegs vor den Blicken anderer Friedhofsbesucher schützt. Ich schwänze die Schule, um an einem Werktag vormittags hier sein zu können, wenn nicht so viele Leute auf dem Friedhof sind. Ein paar Vögel zanken heftig im Geäst des Baumes, der neben der Blutbuche steht. Irgendwo am anderen Ende des Friedhofs sind Geräusche zu hören, ein Rechen oder ein anderes Arbeitsgerät, das über Steinplatten schleift, Kies, in dem sich Schritte bewegen.
Nach einer Stunde gehe ich, ohne es ihm gesagt zu haben. Ob es die richtige Entscheidung ist, weià ich nicht, aber es ist wenigstens eine Entscheidung.
Erst zur fünften Stunde bin ich in der Schule. Zuerst habe ich auf dem Weg zum Friedhof die Zeit vertrödelt, dann auf dem Friedhof selbst, und schlieÃlich auf dem Weg zur Schule. Reinhardt gibt uns den Chemietest von letzter Woche zurück. Mein Ergebnis ist noch schlechter, als ich erwartet habe. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren und mache dadurch vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern jede Menge Fehler. Wenn ich gerade mal keine Fehler mache, dann meist nur deshalb, weil ich mich überhaupt nicht mit den Aufgaben im jeweiligen Test oder in der jeweiligen Klassenarbeit beschäftige, sondern an ganz andere Dinge denke. Das passiert leider in allen Fächern. Vorgestern eine Vier minus in Geschichte und vorletzten Freitag eine Fünf bei der Marberg in Französisch.
Reinhardt bedenkt mich bei der Rückgabe des Tests mit einem ziemlich mitleidigen Blick. Das hat auch Charlotte mitbekommen, und obwohl ich mir Mühe gebe, die neuerliche Fünf vor ihr zu verbergen, muss sie doch Reinhardts zahlreiche rote Anmerkungen auf dem Blatt gesehen haben. Sie schaut mich ebenso mitleidig an wie er gerade.
»Wir könnten mal wieder zusammen lernen«, flüstert sie mir zu. »Das hat doch früher immer gut geklappt.«
Ich antworte ihr nicht, sondern nicke nur. Wir könnten vieles von dem tun, was wir früher gemacht haben. Könnten.
»Das meine ich ernst«, fügt sie hinzu.
»Ruhe jetzt!«, ruft Reinhardt, und obwohl das nicht Charlotte gegolten hat, sondern Basti und Markus, senkt Charlotte schuldbewusst den Kopf.
Ich glaube nicht, dass
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