Nach dem Amok
mein Bruder! Mein scheiÃverdammter Bruder!«
Kim sitzt auf ihrem Stuhl, kreidebleich. Ramona und Stefan sehen nicht weniger entsetzt aus. Niemand sagt etwas.
»Ich kenn dich nicht mehr, echt nicht«, murmelt Kim nach einer Weile, ohne mich dabei anzusehen. »Ich habe gedacht, ich wäre deine beste Freundin, und du erzählst mir so etwas nicht. All die Ausreden! All die Halbwahrheiten über das Aus mit deinem Freund und die Sache mit Romy. Das hat doch alles mit dem Amoklauf zu tun, oder?«
Sie wartet meine Antwort nicht ab, sondern steht vom Tisch auf und geht ohne ein weiteres Wort nach oben in ihr Zimmer. Ich höre, wie sie sich darin einschlieÃt. Ramona und Stefan hat es die Sprache verschlagen. Stefan schluckt, es klingt laut und trocken. Irgendwo im Zimmer tickt eine Uhr, das ist mir vorher noch nie aufgefallen, dieses Ticken.
»Nun«, überwindet sich schlieÃlich Ramona, das Schweigen zu beenden. »Ich denke, es ist gut, dass du es jetzt gesagt hast.«
»Kim braucht sicher nur ein bisschen Zeit. Sie wird sich bei dir melden«, meint Stefan.
Beide wirken so hilflos. Auf einmal sind sie keine Eltern mehr. Weder für Kim noch für mich. Warum habe ich nicht den Mund gehalten! Vielleicht hätten sie es heute noch gar nicht erfahren, selbst wenn sie mich bei meinen Eltern abgeliefert hätten. Papa hätte es niemals von sich aus angesprochen, und wenn ich verhindert hätte, dass Mama eine ungeschickte Bemerkung macht â¦
»Gebt euch keine Mühe«, sage ich.
Dann gehe ich aus dem Zimmer, durch den Flur in die Diele, nehme meine Reisetasche und verlasse das Haus. Niemand hält mich auf. Erst als ich bereits die Tasche aufs Rad gepackt habe und gerade losfahre, öffnet sich die Haustür.
»Maike!«, ruft Stefan. »Komm schon, wir bringen dich! Jetzt wissen wir doch Bescheid. Es wird alles gut, glaub mir!«
Er läuft mir ein Stück hinterher, aber ich hänge ihn ab. Meine Beine sind vom vielen Radfahren in den letzten Wochen gut trainiert. Sie funktionieren auch jetzt, in dieser Situation, genau so, wie sie sollen. Das ist gut. So muss es sein. Mein Körper ist alles, was ich noch habe.
Es ist bereits dunkel, als ich die Blockhütte erreiche. Ich bin einfach drauflos gefahren, zunächst ohne Ziel, dann habe ich überlegt, wo ich hinkönnte, ohne Gefahr zu laufen, aufgespürt zu werden. Die Hütte war nicht leicht zu finden, aber sie ist der einzige Unterschlupf, der mir in den Sinn gekommen ist. Fast zwei Stunden lang bin ich über LandstraÃen und durch Waldgebiete geradelt, während es immer dunkler wurde und zu regnen begann. Ein paar Mal habe ich jemanden nach der Richtung fragen müssen. Nun schält sich die Hütte im Licht meiner Fahrradlampe aus dem Dunkel heraus. Und mit ihr die Erinnerungen.
Seit letztem Herbst bin ich nicht mehr hier gewesen. Ich lehne mein Fahrrad gegen die Holzwand und mache mich auf die Suche nach dem Schlüssel. Er ist da, wo er immer ist, in einem kleinen Astloch neben der dreistufigen Treppe. Dort haben wir ihn auch damals herausgeklaubt, als wir, ohne dass unsere Eltern etwas davon wussten, hergekommen sind. Es war ein warmer Herbsttag, die Hitze des Sommers hatte sich lange gehalten. Die Bäume waren voll von buntem Laub, und es war hell, als wir ankamen.
Ich sperre die Tür auf, das Schloss leistet Widerstand, gibt aber schlieÃlich mit einem Schnappen nach. Im Innern der Hütte sieht alles noch genauso aus, wie ich es im Gedächtnis habe. Ich bin mir nicht sicher, ob seit letztem Herbst jemand hier gewesen ist. Janniks Eltern benutzen ihr Ferienhaus eigentlich immer erst im Juli, in ein paar Wochen werden sie herkommen, aber davor wird mich hier niemand finden. Ich stelle die Reisetasche auf das Sofa, werfe meine vom Regen durchnässte Jacke darauf und streiche dann mit der Hand über den Tisch, die Stuhllehnen, das Fensterbrett, über Bilderrahmen, Sofakissen, Spülbecken. Ich muss alles berühren. Zuletzt das Bett. Ich setze mich darauf, streife meine Schuhe ab, ziehe die nasse Hose aus und lege mich quer über die Bettdecke. Sie riecht ein bisschen muffig, aber nur im ersten Moment, dann ist da Janniks Geruch. Ich weiÃ, dass das nicht möglich ist, aber er ist da, dieser Geruch vom vergangenen Herbst, als wir miteinander geschlafen haben, in diesem Bett, unser erstes Mal.
30
Dass es nachts noch so kalt werden würde, damit habe
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