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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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zu regnen, und ich ärgere mich darüber, keine Regenjacke in die Reisetasche gepackt zu haben. Aber wer konnte denn auch ahnen, dass alles so enden würde, ich allein hier draußen, auf mich selbst gestellt. Zum Glück bekomme ich diesmal, im Gegensatz zu gestern Abend, vom Regen nicht allzu viel ab, weil ich fast ausschließlich unter Bäumen entlangfahre. Als ich dann an eine Landstraße komme und den Schutz der Bäume verlasse, hat der Regen schon wieder aufgehört. Man muss auch mal Glück haben.
    Ich biege nach rechts ab und fahre auf dem Grasstreifen neben der Fahrspur weiter. Ich hätte auch nach links fahren können, aber da nirgendwo ein Schild ist, das mir Aufschluss über meinen Standort oder die Entfernung zur nächsten Ortschaft gibt, ist eine Richtung so gut wie die andere. Notfalls muss ich eben irgendwann umdrehen.
    Hin und wieder kommt mir ein Auto entgegen oder fährt in meiner eigenen Richtung dicht an mir vorbei. Jedes Mal starren mich die Insassen an. Ich muss schleunigst von der Straße runter, ich bin hier total auf dem Präsentierteller. Meine Eltern waren sicher schon bei der Polizei.
    Endlich taucht ein Hinweisschild vor mir auf, das den nächsten Ort in zwei Kilometern Entfernung ankündigt. Als ich es sehe, erwarte ich, eine Art Erleichterung zu spüren. Das war doch gar nicht so schwer, sage ich mir, zuerst sind die Worte nur in meinem Kopf, dann spreche ich sie laut aus: »Das war doch gar nicht so schwer.« Ich muss sie laut aussprechen, weil etwas in mir ganz anders reagiert als erwartet. Ich fühle keine Erleichterung. Meine Beine beginnen zu zittern. Ich kann nicht mehr weiter, bin völlig erschöpft. Es ist keine körperliche Erschöpfung, es ist etwas anderes. Ich steige vom Fahrrad, lasse es fallen, setze mich am Straßenrand hin und fange an zu heulen. Mein Fahrrad liegt im Gras, das Vorderrad dreht sich noch. Durch die Tränen sehe ich das sich drehende Rad, es verschwimmt zu einer seltsamen Form, zu einem Oval, das total falsch aussieht. Ich will das Oval anhalten, schaffe es aber nicht, danach zu greifen, und so bin ich darauf angewiesen zu warten, bis es von selbst stehen bleibt. Das ist das Schlimmste. Nichts tun zu können. Nicht, weil man tatsächlich nichts tun könnte, sondern weil man nicht stark genug dafür ist. Wenn ich noch nicht einmal einen Fahrradreifen stoppen kann, wie hätte ich das mit David verhindern sollen? Ich bin viel zu schwach für das alles. Ich bin zu schwach, um Leben zu erhalten, andere Leben, vielleicht sogar mein eigenes.
    Irgendwann hält ein Auto neben mir. Ein Mann lehnt sich vom Fahrersitz aus über den Beifahrersitz und lässt das Seitenfenster herunter. Das dabei entstehende Geräusch hört sich an, als würde Luft aus einem Fahrradreifen entweichen.
    Â»Ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?«
    Ich schüttele den Kopf und versuche, ihm mein Gesicht nicht zu zeigen. Nur für alle Fälle.
    Â»Komm schon, ich nehme dich mit. Dein Rad kriegen wir bestimmt in den Kofferraum.«
    Er steigt aus seinem Wagen. Panik überkommt mich. Ich springe auf, packe mein Fahrrad, laufe, so schnell ich kann, in den Wald neben der Straße hinein, einfach nur hinein, dann steige ich aufs Rad und fahre los. Da ist kein Weg, es ist ein Zickzack zwischen Bäumen hindurch. Der Mann folgt mir nicht, aber ich fahre trotzdem noch ein Stück weiter. Als ich anhalte, ist die Straße nicht mehr zu sehen.
    Ich lehne das Rad gegen einen Baum, zitternd vor Angst und zugleich wütend auf mich selbst. Die Vorstellung, weitab von einer Ortschaft, mitten im Wald einem fremden Mann ausgeliefert zu sein, macht mir jetzt noch Angst. Gleichzeitig befürchte ich, dass ich mich mit meiner albernen Flucht so richtig verdächtig gemacht habe. Sollte der Mann zufällig irgendwo ein Fahndungsfoto von mir sehen, wird er sich nach diesem bescheuerten Auftritt garantiert an mich erinnern. Vielleicht läuft er sogar schnurstracks zum nächsten Polizeirevier und erzählt dort von seiner merkwürdigen Begegnung. Und die müssten dann nur zwei und zwei zusammenzählen …
    Als ich mich umschaue, stelle ich fest, dass ich inmitten unzähliger Bäume stehe und nirgends ein Weg in Sicht ist. Keine Ahnung, wie ich zur Straße zurückfinden soll. Um die Orientierung wiederzufinden, versuche ich, die Spuren meiner Fahrradreifen auf dem Waldboden zu erkennen, aber

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