Nach dem Amok
ich nicht gerechnet. Es gibt in der Hütte zwar einen Ofen, aber den habe ich einfach nicht zum Laufen bekommen. Meine durchnässte Kleidung habe ich über mehreren Stuhllehnen ausgebreitet. Nur unter der Bettdecke lässt es sich aushalten, trotz der frischen, trockenen Sachen, die ich angezogen habe. Ich kann nicht gut schlafen, weil ich ständig weinen muss. SchlieÃlich gehe ich noch mal zur Toilette, und dabei friere ich wie verrückt. AuÃerdem bekomme ich allmählich Hunger, denn ich hatte kein Abendessen und habe mich beim Radfahren ordentlich verausgabt. In der Reisetasche ist auÃer einem Müsliriegel nichts Essbares zu finden, immerhin habe ich nicht geplant, mich selbst versorgen zu müssen. Beim Durchsuchen der Schränke und Schubladen in der Hütte stoÃe ich nur auf ein paar Konservendosen. Einen Büchsenöffner oder irgendetwas anderes, womit man die Dosen aufbekommen könnte, kann ich nirgendwo entdecken. Jetzt bin ich wirklich ratlos. Ich beschlieÃe, den Müsliriegel für das morgige Frühstück aufzuheben. Wenn ich länger hierbleiben will â und das will ich, weil ich in Ruhe überlegen muss, wie es weitergehen soll â, werde ich mir im nächsten Ort etwas zu essen kaufen, werde unter Leute gehen müssen, und das birgt die Gefahr, entdeckt zu werden, durch einen blöden Zufall, sobald erst einmal die Polizei nach mir sucht. Die Polizei. Das alles nimmt plötzlich riesige AusmaÃe an. Handyortung, fällt mir siedend heià ein, und ich stürze zur Reisetasche, hole das Handy heraus. Ich habe es auf lautlos gestellt. Acht entgangene Anrufe mit Mailbox-Nachricht. Ich schalte das Handy aus, ohne mir die Nachrichten anzuhören. Dann schalte ich es noch mal kurz ein, um eine SMS abzusenden. Zuerst will ich an Jannik schreiben, aber dann entscheide ich mich doch für das Handy meiner Eltern. Das hier geht Jannik nichts mehr an.
Es geht mir gut, brauche Zeit, sucht nicht nach mir. Maike
Sie werden nach mir suchen. Das ist mir klar, ich bin ja nicht blöd. Bestimmt haben Kims Eltern längst bei meinen Eltern angerufen, allein schon, um sich zu vergewissern, ob ich gut zu Hause angekommen bin. Ich schalte das Handy aus und lege es auf den Nachttisch. Um nicht in Versuchung zu geraten, die Nachrichten auf der Mailbox abzuhören, stecke ich es dann aber doch wieder zurück in die Reisetasche. Ich will nicht wissen, was sie mir zu sagen haben. Meine Eltern. Kims Eltern. Vielleicht auch Kim selbst, obwohl ich das bezweifle, so, wie sie vorhin auf ihr Zimmer gerauscht ist.
Als ich wieder unter der Bettdecke liege und die Wärme sich allmählich in meinem Körper ausbreitet, ist drauÃen alles ruhig. Die Hütte liegt nicht tief im Wald, aber so weit von jeder StraÃe entfernt, dass man keinen Autolärm hört. Es gibt noch zwei oder drei weitere Blockhütten in der Umgebung, hat Jannik erzählt, aber sie sind so weit auseinander gelegen, dass die Besitzer sich in aller Regel nicht über den Weg laufen. Die Ruhe ist ungewohnt für mich. Die leisen Gespräche meiner Eltern fehlen, das entfernte Zuschlagen einer Autotür, das Bellen eines Hundes. Es ist viel zu still hier.
Erst als im Morgengrauen das Gezwitscher der Vögel einsetzt, schlafe ich ein.
Gegen Mittag werde ich wieder wach. Mein Hunger ist noch schlimmer geworden, also halte ich mich nicht lange mit Körperhygiene auf, sondern verschlinge den Müsliriegel und mache mich dann gleich auf den Weg, um die Umgebung auszukundschaften. Damals mit Jannik habe ich mich nicht in der Nähe umgesehen, aber er hat mir die Richtung gezeigt, in der sich die nächste Ortschaft befinden soll. Ich inspiziere den Inhalt meines Geldbeutels. Allzu viel ist nicht darin, ein Zwanziger und ein paar Münzen.
Der Sattel meines Fahrrads ist noch kühl von den Temperaturen der letzten Nacht. Das Wetter sieht auch heute nicht besonders einladend aus. Ich nehme den Weg, der laut Jannik in die Zivilisation führen soll. Als der Pfad sich nach ungefähr einer Viertelstunde gabelt, wähle ich für die Weiterfahrt den etwas breiteren. Er dürfte mich am ehesten irgendwohin bringen, zu einem Ort oder wenigstens zu einer StraÃe, die mir die Orientierung wiedergibt. Immerhin ist fraglich, ob ich in nächster Zeit die Möglichkeit bekommen werde, jemanden nach der Richtung zu fragen, denn bislang ist mir keine Menschenseele begegnet.
Es beginnt
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