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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alden Bell
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sie erblickt nur einen Ständer für Jacken und Schirme und einen Schrank für verschmutzte Schuhe. Die Fenster sind nicht mit Brettern vernagelt, stattdessen sind mehrere Stoffschichten aus Spitze und Musselin mit dicken, burgunderfarbenen Seilen festgezurrt, an deren Enden große Troddeln hängen. Die Wände und der Boden sind nicht mit braunem, verkrustetem Blut verschmiert. Keine Plätze für Wachen oder Schützen. Es ist, als wäre sie in ein anderes Zeitalter versetzt worden.
    Beim Eintreten hört sie als Erstes eine Klaviermelodie. Natürlich nimmt sie an, dass es sich um eine Aufnahme handelt, doch dann bricht die Melodie jäh ab und fängt wieder von vorn an. Offenbar übt da jemand auf einem richtigen Klavier.
    Das Stück ist friedlich, aber auch voller Akkorde, die an ihr ziehen. Eine wehmütige Friedlichkeit.
    Wer spielt da Klavier?, fragt sie Johns.
    Mr. Grierson übt immer am Vormittag.
    Und wer is das da an der Wand?
    Sie deutet auf das Porträt eines Mannes in einer altmodischen Militäruniform neben einer Frau, die in einem langen roten Kleid auf einem Stuhl sitzt. Hinter ihnen ist eine Flagge mit einem X darauf, in der sie die Fahne des alten Südens wiedererkennt.
    Das sind Henrietta und William Cuthbert der Dritte, die Ururgroßeltern von Mrs. Grierson.
    Ah, hab’s kapiert. Mit anderen Worten, das ist das Haus der Griersons.
    Es heißt Belle Isle.
    Wie Sie meinen. Lassen Sie mich bloß kurz das Blut von den Füßen putzen, damit ich keine Flecken reintrage.
    Johns bedenkt sie mit einem vernichtenden Blick, den sie mit einem süßen Lächeln quittiert.
    Wie darf ich Sie anmelden?, fragt er.
    Ganz normal is in Ordnung.
    Welchen Namen soll ich nennen?
    Ach so. Sarah Mary Williams.
    Und er?
    Sie können ihn einfach Dussel nennen – ich und er, wir legen keinen großen Wert auf Förmlichkeiten, oder, Dussel?
    Johns schwenkt eine der großen Doppeltüren in der Eingangshalle auf. Dahinter erscheint ein Salon mit blumengemusterten Sofas und Sesseln sowie einem wuchtigen schwarzen Flügel mit hochgestelltem Deckel, unter dem alle Saiten zu erkennen sind. Auf einer Seite sitzt eine elegant gekleidete Frau an einem Kartentisch. Sie spielt Patience und nippt an einem Getränk, in dem zerstoßene Blätter oder etwas Ähnliches schwimmen. Sie ist schon über siebzig, aber königlich in ihrer Haltung und gutaussehend, und trägt ein glitzerndes, knisterndes Kleid, wie es Temple noch nie in der echten Welt gesehen hat.
    Am Klavier sitzt ein junger Mann in einem dreiteiligen Anzug, das Haar glatt nach hinten frisiert, und sein Körper wiegt sich im Takt der Musik. Als er sich umdreht, registriert Temple seine zarten grünen Augen und sein glattrasiertes Gesicht. Sie nimmt an, dass er fünf Jahre älter ist als sie.
    Mrs. Grierson, verkündet Johns, diese junge Dame und ihr Begleiter sind auf der Durchreise und brauchen Hilfe. Miss Sarah Mary Williams.
    Eigentlich brauchen wir keine Hilfe, erklärt Temple, einfach nur einen kleinen Happen zu essen oder so.
    Was für eine schöne Überraschung! Mrs. Grierson erhebt sich vom Tisch und rauscht auf Temple zu, um sie in die Arme zu schließen und sie auf beide Wangen zu küssen.
    Willkommen, Sir. Sie streckt dem riesigen Mann mit den trägen Augen neben Temple die Hand hin.
    Achten Sie gar nich auf ihn, meint Temple. Der hat von Händeschütteln keine …
    Aber zu ihrer Überraschung streckt er die Hand nach vorn, und Mrs. Gierson nimmt sie.
    Kommen Sie, kommen Sie, ruft Mrs. Grierson. Ich möchte, dass Sie meinen Enkel Richard kennenlernen.
    Der junge Mann am Klavier steht auf und verbeugt sich leicht in ihre Richtung.
    Enkel, sagt Temple. Bei diesem ganzen Mister- und Missusgerede dachte ich, dass Sie miteinander verheiratet sind.
    Aber nein. Ich bin schon so lange Witwe, dass ich mich fast nicht mehr daran erinnern kann. Jetzt sind nur noch ich und meine Jungen da – meine zwei Enkel und ihr Vater. Dem armen Vater geht es zurzeit leider nicht so gut. Möchten Sie vielleicht ein Glas Eistee?
    Temple fixiert das Glas auf dem Kartentisch.
    Was haben Sie da drin, Pflanzen?
    Das ist frische Minze. Wir ziehen sie im Garten.
    Klar, bin dabei.
    Johns verschwindet, und kurz darauf bringt eine Frau, die wie seine Frau oder Schwester aussieht, ein Tablett mit mehreren Gläsern Eistee herein, stellt es ab und verlässt das Zimmer wieder. Sie setzen sich auf die Sofas und plaudern, und Temple legt sich ins Zeug, um herzlich und damenhaft zu wirken. Sie bemüht sich, den Tee

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