Nach dem Ende
was sie hinterlässt.
Die Griersons kümmern sich bestimmt um den Dussel. Besser, als sie es kann. Sie ist keine Amme, keine Retterin der Sanftmütigen. Sie weiß, wo sie hingehört: zu den Kannibalen und Wahnsinnigen, zu den Fleischfressern und Wanderern in einem geschändeten Land, zu den Monstern. Sie hat Dinge getan, die sie für immer gezeichnet haben wie mit einem Brandmal auf der Stirn, und es wäre zwecklos, das zu leugnen. Es wäre reine Einbildung.
Wo willst du jetzt hin?, fragt James Grierson.
Nach Norden, dachte ich. Sie zuckt die Achseln.
Sie sind in der Bibliothek im ersten Stock. Glastüren öffnen sich auf einen Balkon vor dem Haus, und bunte Bände füllen die Regale bis zur Decke. Wieder einmal fragt sie sich, wie es gewesen wäre, hundert Jahre früher aufzuwachsen. Sie malt sich aus, wie sie an einem Schreibtisch sitzt und Buchstaben lernt, wie eine grauhaarige Frau in einem adretten Kleid vorn mit einem langen Stab auf eine Weltkarte zeigt oder wie sie über ein kleines Pult gebeugt eine Prüfung ablegt und am Ende eines Bleistifts kaut. Aber es fällt ihr schwer, sich auf die Bilder dieser fernen Welt zu konzentrieren, und sie stellt sich unwillkürlich vor, dass ein Fleischsack die Tür zum Klassenzimmer aufsprengt und alle Kinder fliehen, während sie ihr Gurkhamesser aus dem Schulranzen zieht, es auf den Schädel des Fleischsacks niedersausen lässt und den leichten Widerstand spürt, wenn sich die Klinge tief hineingräbt. Und dann jubeln ihr alle Kinder zu, und die grauhaarige Lehrerin nickt anerkennend. Sie muss grinsen, wenn sie sich solche Szenen ausdenkt.
Er wird dir folgen, meint James Grierson.
Das is mir klar. Aber er is kein so guter Fährtenleser, wie er behauptet. Wenn ich einen halben Tag Vorsprung hab, hat er keine Chance, mich zu finden.
Ich werde ihn länger festhalten.
Nein, ein halber Tag reicht. Er wird ganz schnell abhauen, wenn er glaubt, dass er mich noch erwischen kann. Wenn du ihn länger festhältst, richtet er vielleicht noch irgendwie Schaden an, bevor er abzieht.
Mit dem werde ich schon fertig.
Natürlich, aber deine Granny will keine Scherereien – genauso wenig wie dein Bruder, Johns und Maisie. Sie schaffen es alle recht gut, die Welt auf Abstand zu halten. Da sind sie bestimmt nich scharf auf einen Krieg im Wohnzimmer.
Und du bist sicher, dass das ein guter Plan ist? Du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang durchs Land streifen.
Warum denn nicht? Bis jetzt sind mir höchstens zwei interessante Alternativen untergekommen. Und da war es so … na ja, entweder is es nich von Dauer, oder ich kann mich nich anpassen. Das geht schon alles klar, schätz ich. Wenn ich irgendwo was finde, was mich reizt, halt ich an.
Lächelnd schüttelt er den Kopf. Fast könnte ich mir vorstellen, dass ich mitkomme, wenn ich nicht auf das Erbe der Griersons aufpassen müsste.
Du hast deine Aufgabe, und ich hab meine. Hat keinen Zweck, über romantische Reisen nachzudenken.
Er schenkt ihr ein Glas Bourbon ein und nimmt seines hoch. Du kannst jederzeit mit mir anstoßen. Es ist mir eine Ehre.
Danke. Sie trinkt. Wenn ich wieder mal hier durchkomme, schau ich vorbei und sag Hallo zur Familie.
Das Anwesen wird zweifellos unversehrt sein.
Auf Granny Grierson. Sie hebt ihr Glas.
Auf Granny Grierson.
Auf Richard, den sanften Klavierspieler!
Auf Richard!
Sie stoßen auf seinen Vater und Johns und Maisie und den Dussel und alle anderen an, die ihnen einfallen, und sie küssen sich, sein Arm liegt wie ein Balken um ihre Hüften, und dann lachen sie und fangen wieder von vorn an mit den Trinksprüchen, und als sie fertig sind, ist sie zwar nicht richtig betrunken, aber ihre Gedanken sind zäh und breiig. Auf ihrem Zimmer hat sie das Gefühl, dass sie sich hinlegen und eine Stunde schlafen könnte, aber sie weiß, dass sie dann vielleicht zu spät aufwacht, also klatscht sie sich am Waschbecken im Bad Wasser ins Gesicht, reißt das Fenster auf und dreht ein paar Runden im Zimmer, bis die Zeit wieder so schnell ist, wie es sich gehört.
Aber als sie eine halbe Stunde später schon fast fertig zum Aufbruch ist, klopft es. James Grierson lehnt mit niedergeschlagener Miene am Türpfosten. In einer Hand hat er einen Drink, in der anderen einen Revolver.
Musst mir einen Gefallen tun. Seine Zunge klingt ziemlich schwer. Weißt du was? Ich glaub nicht, dass Sarah Mary Williams dein richtiger Name ist. Hab ich Recht? Egal. Du hast Geheimnisse – aber das spielt keine Rolle.
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