Nach dem Ende
dunstigen kleinen Mädchenhirn vorgeht. Mit einem schweren Seufzen späht er in die Ferne.
Also schön. Er setzt ihr die Pistole an die Stirn. Das geht ganz schnell – bevor du überhaupt was spüren kannst, träumst du schon vom Himmel. Aber vielleicht machst du lieber die Augen zu.
Sie tut es. Sie schließt die Augen und denkt an alles Mögliche, an Malcolm und den Dussel Maury und den Leuchtturm, auf dem sie die Weite des Ozeans bewundern konnte, und sie malt sich aus, wie sie über diesen Ozean fliegt, der sich endlos unter ihr ausbreitet, wie sie an der Oberfläche dahinjagt, schneller und schneller, bis ihr alles vor den Augen verschwimmt und oben und unten keine Bedeutung mehr haben und die Luft um sie zäh und fest wird und das Gesicht Gottes heranbraust, ganz nah, und sie sagt Amen, Amen, Amen …
Sie hört den Schuss, aber etwas stimmt nicht, denn eigentlich hätte sie nichts hören dürfen. In ihrem Kopf geht alles durcheinander, und sie schwitzt auf einmal stark, und ein Teil von ihr fliegt noch immer über das Meer. Sie öffnet die Augen und sieht Moses Todd, dem die Pistole aus der Hand gleitet. Er umklammert seine Schulter, und durch die Finger sickert braun das Blut.
Scheißkerle. Er weicht vor ihr zurück.
Dann schieben sich von hinten mehrere Gestalten, bestimmt sechs oder sieben, riesig und ungeschlacht, an ihr vorbei und ringen Moses Todd nieder, der immer noch schreit, Scheißkerle, Scheißkerle, bis sie so schnell atmet, dass in ihren Augen kleine Lichtexplosionen erscheinen, und sie lässt sich auf den Boden gleiten, ganz sicher, dass sie jetzt bald sterben wird, weil sie so furchtbar müde ist, so schrecklich müde, und weil Moses Todd Recht hat: Die vollkommene Welt hat eine Rechnung mit ihr offen, und sie hat das Gefühl, dass sie sich schon viel zu lange vor dem Bezahlen drückt.
Im Rathaus befinden sich Reihen von Schreibtischen, die mit den Überresten verschiedener Epochen übersät sind. Verstaubte Computermonitore, Krüge voller Kugelschreiber, gerahmte Fotografien, Keramiktöpfe mit längst toten Kletterpflanzen, deren Ranken sich erstarrt über Fensterbretter schlängeln, und hier und da schwarzbraun eingetrocknete Flecken auf Löschblättern.
Die Scheibe eines Bildschirms ist herausgebrochen, und in dem Rahmen ruht grinsend und mit Brille der verhutzelte Kopf eines Mannes.
Sie führen sie nach hinten durch eine Pendeltür und über die Marmortreppe hinunter in den Keller, der einen großen zentralen Raum mit fünf oder sechs angrenzenden Gefängniszellen umfasst. An einer Wand stehen zwei Tische mit hoch aufgetürmter Laborausrüstung, wie sie sie aus Crystal-Meth-Küchen kennt – nur etwas anders. Mitten im Zimmer befindet sich ein Metalltisch mit hohen Rändern und einer Rinne – ein Autopsietisch. Allerdings ist dieser zusätzlich mit Gurten ausgestattet, um den Körper festzuhalten. Und neben dem Autopsietisch steht eine Art Zahnarztstuhl. Auf dem Linoleumboden prangt verkrustetes, schorfiges Blut.
Sie stecken sie in eine Zelle und knallen die Tür hinter ihr zu. Drinnen sinkt sie auf die Knie und klettert dann auf eine alte Pritsche an der Wand. Sie hört Tappen und Ächzen. In einer Zelle sind Fleischsäcke, die sich umschleichen wie nervöse Tiere.
Hoch an der Wand ihrer Zelle ist ein rechteckiges, vergittertes Fenster, und obwohl sie erschöpft ist, bemerkt sie das einfallende Licht. Die Scheibe ist dreckverschmiert und mit Rissen überzogen, ein kleines Stück fehlt ganz. Und durch diese winzige Öffnung dringt schwach der Schein des Abends.
Gott findet dich auch in einem Keller, denkt sie. Dann kann sie die Augen nicht mehr offen halten.
9
H ey, Kleine, wach auf.
Sie träumt gerade von schönen Dingen – von Wiesen mit saftigem Gras, das ihr bis zu den Hüften reicht, von Seen, auf denen sie ausgestreckt dahintreiben kann, gekitzelt von der straffen Haut des nassen Elements wie ein kleiner huschender Wasserläufer, der sich zwischen Himmel und Erde die Zeit vertreibt.
Zeit zum Aufwachen, Kleine.
Noch bevor sie etwas gesehen hat, hat sie die Stimme erkannt. Schützend legt sie die Hand vor die Augen und öffnet sie einen Spalt. Als Erstes fällt ihr das Licht auf, das durch das Fenster hereindringt. Tag – sie muss lange bewusstlos gewesen sein.
Raus aus den Federn, Täubchen. Wir sitzen in der Patsche.
Moses Todd ist in der Zelle nebenan und hält sich den blutigen Arm.
Sie setzt sich auf. Ihr brummt der Schädel, aber der Schwindel hat aufgehört.
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