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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alden Bell
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nach Westen.
    Bald erhebt sich die Straße auf Betonpfeilern, und der Sumpf verwandelt sich unter ihnen in einen See aus zähem Brackwasser, über dessen Oberfläche in trägen Strudeln grüner Schleim wandert. Auf halber Brückenlänge endet die Fahrbahn, wo ein großes Stück Asphalt abgebrochen und im Schlick versunken ist. Sie stoppt und blickt über die Lücke. Hundert Meter weiter vorn fängt die Brücke wieder an mit einem zerklüfteten Betonstück, das verbogen ist wie eine Antenne aus Aluminium. Also wendet sie und fährt zurück zu einer Seitenstraße, die aussieht, als würde sie einen Bogen in südlicher Richtung um den See schlagen. Die Straße folgt einem schmalen, braunen Fluss mit wucherndem Gestrüpp an den Ufern, in dessen dornigen Zweigen sich Styropor und anderer alter Müll verfangen hat.
    Nach einer Kurve bemerkt sie in der Ferne etwas. Zuerst erinnert es an einen Menschen oder eine Schabe, aber als sie näher kommt, wird ihr klar, dass die Gestalt zu groß ist. Sie ist menschenähnlich, aber zwischen zweieinviertel und zweieinhalb Meter groß. Sie stapft dahin wie ein Wiedergänger, die Arme pendeln wie schwere Ketten. Als sie das Auto hinter sich hört, dreht sie den Kopf, und Temple sieht das Gesicht – menschlich, aber entstellt, ein Teil des Schädels entblößt, das eine Auge wild aufgerissen, das andere schläfrig bedeckt, grünlich bleich wie Moos oder Schimmel. Doch es ist keine Schabe, denn beim Anblick des Wagens flüchtet sie sich in einer merkwürdig schiefen Haltung in die Bäume.
    Ach du meine Fresse, was war das denn?, fragt Temple.
    Als sie zu der Stelle kommt, wo das Wesen verschwunden ist, hält sie den Wagen an. Sie beugt sich aus dem Fenster und lässt den Blick über die Baumgrenze gleiten, kann aber nichts entdecken.
    Hey, ruft sie ins dichte Gestrüpp. Hey, Lulatsch! Du kannst rauskommen, ich tu dir nix.
    Neben ihr auf dem Beifahrersitz fängt Maury an zu wimmern. Ein langgezogenes, leises Greinen ohne Sinn.
    Sei still. Wir fahren ja gleich weiter. Ich muss nur rausfinden, was das für ein Riese war. Manchmal verbirgt sich unter einem unangenehmen Äußeren ein Wunder.
    Sie öffnet die Tür und steigt aus. Den Panamahut setzt sie auf, und das Gurkhamesser nimmt sie in die Hand. Maury wimmert immer noch.
    Bitte Maury, halt doch mal die Klappe. Wie soll ich denn sonst das Monster hören?
    Sie tritt vom Asphalt in das zähe Unkraut auf dem Randstreifen. Der Abend ist nicht mehr fern, aber der Chor der Zikaden hat noch nicht eingesetzt. Nur abgehacktes Vogelgeschrei erfüllt die Luft.
    Komm schon raus, Monster. Du bist doch ein Geschöpf Gottes. Kein Grund, dich zu verstecken.
    Nachdem sie mehrere schlingpflanzenumrankte Äste beiseitegeschoben hat, gelangt sie auf eine Lichtung. Dort erwartet sie ein Anblick, der sie verstummen lässt – nicht nur ihre Stimme, sondern ihren ganzen Körper, als wäre die Stille bis in ihre Eingeweide gekrochen.
    Zuerst meint sie, dort sind tote Babys aufgereiht, doch dann erkennt sie, dass es rosafarbene Plastikpuppen sind, manche nackt, andere in schmutzige, regenverwaschene Sachen gekleidet, teils mit einem Filz falscher Haare, teils mit aufgemalter Stirnlocke. Und nicht alle sind vollständig. Bei zweien fehlt ein Arm, eine hat gar keine Gliedmaßen, und von einer anderen liegt nur der Rumpf wie eine fleischige Lutschtablette auf der festgestampften Erde. Die meisten ruhen auf Wiegen aus Zweigen mit Blättern als Kissen. Eine Puppe ist zur Seite gestoßen worden und mit dem Gesicht nach unten gelandet, die Zweige sind verstreut, das rosafarbene Spitzenkleid, steif und dünn, ist zurückgeschlagen und lässt die unnatürlich nach hinten gebogenen Beine erkennen.
    Sie spürt, wie es ihr die Kehle zusammenzieht, die Szenerie widerstrebt ihr – als wäre ihr Blick auf etwas Unheiliges gefallen, eine gewaltsame Zusammenfügung von Chaos und Ordnung, wo alles auf brutale Weise auseinandergezerrt und hingebogen wird wie diese Puppenbeine.
    Sie hört das Atmen hinter sich, ein kratzendes, flatteriges Schnaufen – aber ihr Bewusstsein ist zu dunklen Orten vorgedrungen, und als es zurückschnellt, ist es schon zu spät. Sie dreht sich um und sieht mehr als einen halben Meter über sich ein Gesicht, skelettartig und abstoßend, zur Hälfte abgelöst, der Knochen trocken und schmutzig grau, fleischlose Zähne, intelligente Augen. Dann bemerkt sie den erhobenen Arm, dick wie ein Ast, und den Stein in der Hand.
    Schon zuckt die Hand nach unten, und

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