Nach dem Ende
sie nach fahrtauglichen Wagen Ausschau, doch die Bahnstrecke hat sie aus dem städtischen Einzugsgebiet herausgeführt. Sie überlegt, ob sie umkehren sollen, um zu den wichtigen Highways zu gelangen, entscheidet sich aber dagegen, weil es hier in dieser einsamen Gegend weniger wahrscheinlich ist, dass ihnen jemand folgt. Außerdem ist es friedlich zwischen den Gleisen und dem Fluss gleich daneben. Manchmal marschieren sie stundenlang, ohne einen einzigen Fleischsack zu sehen – und die wenigen, die ihnen über den Weg laufen, sind träge vor Hunger und können zum Teil nicht einmal aufrecht gehen.
Einmal am Morgen, als sie sich Wasser ins Gesicht klatscht, bemerkt sie eine ziellos treibende Gestalt im Fluss. Es ist ein Fleischsack, der den Kopf nicht über Wasser halten kann und unbeholfen mit den Armen rudernd von der langsamen Strömung mitgezogen wird – vielleicht, so stellt sie sich vor, bis hinaus aufs Meer.
Bei einer anderen Gelegenheit entdecken sie auf einer Lichtung neben den Schienen einen Haufen verbrannter menschlicher Leichen. Die morsche Masse ragt höher auf als sie, und die verkohlten Gliedmaßen sind miteinander verschmolzen und zu einer Art schwarzem Iglu versteinert. Bei jedem Windstoß flattern die papierdünnen Hautfetzen wie Lametta hin und her. Nirgends ist ein Lebenszeichen zu sehen, und sie fragt sich, was dieser Scheiterhaufen an diesem abgelegenen Ort zu bedeuten hat.
Am dritten Nachmittag zieht ein flussaufwärts fahrendes Motorboot mit zehn oder fünfzehn Menschen an Bord an ihnen vorbei. Zwei Kinder beäugen sie durch riesige Sonnenbrillen. Der Mann am Steuer dreht bei, ohne den lärmenden Motor abzustellen. Er winkt Temple zu, die zurückwinkt. Dann hält er den Daumen abwechselnd nach oben und nach unten, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie antwortet mit erhobenem Daumen, und er bildet mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, um ihr sein Okay zu signalisieren. Schließlich lenkt er das Boot wieder in die Flussmitte und setzt die Fahrt fort.
Untertags wirbeln sie mit den Füßen trockenen Staub auf und müssen sich bewegen, damit er hinter ihnen bleibt. Wenn sie stehen bleiben, werden sie von ihrer eigenen Wolke eingeholt, die ihnen Tränen in die Augen treibt und sie zum Husten zwingt.
Mitunter finden sie auf zugewachsenen Lichtungen eingestürzte Schuppen, die sie nach nützlichen Gegenständen und Kuriositäten durchforsten.
Nachts kocht sie Wasser in alten Dosen, die neben den Schienen herumliegen. Sie fügt Beeren und aromatische Blätter hinzu, von denen sie weiß, dass sie nicht giftig sind.
Flusswasser, sagt sie. Nicht unbedingt das Elixier der Götter, aber wenn du Durst hat, rinnt es dir gut durch die Kehle.
Manchmal singt sie, um nicht völlig in Einsamkeit zu versinken.
Wolken ziehen herauf, dann kommt der Regen, und die versengte Erde schluckt ihn mit jeder Pore. Es könnte tagelang schütten, ohne dass sich eine Pfütze bildet, so verdorrt und hart ist der Boden, über den sie marschieren. Sie suchen keinen Schutz, sondern stapfen weiter, das belebende Gefühl der Tropfen auf der Haut. Das Gesicht zum Himmel gekehrt streckt sie die Zunge hinaus, damit ihr der Regen durch die Kehle läuft. Das leise Grollen des fernen Donners klingt wie das Krachen einer mittelalterlichen Kanone, das nicht nur über eine Strecke von vielen Meilen, sondern von Jahrhunderten zu ihnen dringt – als würden sie dem Fluss zurück in ihre primitive Vergangenheit folgen. Als der Lärm näher rückt und Blitze den Himmel für Momente in grellweißes Licht tauchen, beginnt Maury zu wimmern. Hilflos die Hände öffnend und schließend steht er da und will nicht weitergehen.
Schon gut, Maury, beruhigt sie ihn. Der Rummel tut dir nix. Das is nur Gott, der sich bei der Hochzeit von Himmel und Erde ein bisschen aufführt. Ab und zu muss er mal auf den Putz hauen, damit wir nich vergessen, wer der Chef im Ring is. Komm schon, schau einfach auf die Gleise und hör mir zu. Ich singe, bis wir durch sind.
Sie nimmt ihn bei der Hand, und sie marschieren weiter zum Klang ihrer Stimme, die weit und hoch in den grauen Himmel schallt, bis hinter den Wolken wieder die Sonne in langen geraden Streifen hervorlugt, die so klar umrissen sind, dass man fast das Gefühl hat, man könnte auf ihnen herunterrutschen, wenn es nur eine Leiter gäbe, die so hoch hinaufreicht.
Auf einem großen über den Fluss hinausragenden Felsen legen sie sich auf den Rücken und lassen die Kleider trocknen. Sie
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