Nach dem Ende
spürt das Kitzeln der Tröpfchen auf ihrer Haut, zugleich quälend und köstlich.
Wenn du mit geschlossenen Augen in die Sonne schaust, erklärt sie Maury, siehst du die winzigen Tierchen, die auf deinen Augäpfeln wohnen.
Da bemerkt sie, dass Maury eingeschlafen ist.
Seufzend blickt sie den zurückweichenden Wolken nach.
Mein Gott, flüstert sie, das Leben hat wirklich einiges zu bieten. Ich wette, dass ich noch an Orte komme, von denen ich noch gar nix weiß.
Am fünften Tag ihrer Wanderschaft hört sie ein Poltern. Zuerst vermutet sie, es ist wieder ein Gewitter, doch das Geräusch dauert zu lange an. Es setzt sich einfach fort, nicht wie Donner oder das Bersten einer Welle, Naturerscheinungen, die einmal laut werden und dann verklingen. Tastend legt sie die Hand auf die Stahlschiene.
Wir sollten lieber ein bisschen auf die Seite gehen, Maury. Vielleicht können wir da mitfahren, wenn nich lauter Mutanten in dem Zug sitzen. Aber ich schätze, die Erben der Erde halten nich viel vom Reisen mit der Eisenbahn.
Sie nimmt das Gurkhamesser aus ihrem Sack und verbirgt es hinter dem Rücken.
Mit Scherereien musst du immer rechnen, aber ehrlich gesagt könnten meine Füße eine kleine Pause vertragen. Stell dich gerade hin, Maury, und schau möglichst harmlos drein.
Aus dem Osten kommt eine Diesellok in Sicht, gefolgt von drei Güterwaggons mit sperrangelweit offenen Türen, die dem Schlund eines Riesenfischs ähneln. Gleich nach der Kurve wird die Lok langsamer und stoppt, ja tatsächlich, das Ungetüm aus Stahl und Ketten und Schmieröl hält mit hustenden Luftdruckbremsen und metallischem Kreischen nur wenige Zentimeter vor der Stelle, wo sie mit Maury wartet. Sie denkt an David und Goliath und andere Geschichten, in denen das Monster verharrt und sich mit knackenden Gliedern hinkniet, um seinen mickrigen Feind in Augenschein zu nehmen.
Sie umklammert das Messer hinter ihrem Rücken fester. Verzieht keine Miene. Kein Lächeln, kein finsterer Blick. Alle Geräusche um sich herum nimmt sie wahr, das Zwitschern der Vögel, das Plätschern des Flusses in der Ferne und das Rauschen des Windes in den Bäumen.
Die Lokomotive hat die Form einer Bulldogge, stumpfe Nase und Hängebacken. Sie ist waldgrün gestrichen mit einem gelben Flügelwappen an der Front, doch der Staub von tausend Reisen hat sich auf ihr gesammelt und verleiht ihr das Aussehen von einem Wesen, das sich erst jüngst aus der Erde erhoben hat.
Plötzlich gleitet an der Seite der Lok eine Tür auf, und das rußverschmierte Gesicht eines alten Mannes erscheint. Er trägt eine Baseballmütze, die er nun abnimmt, um sich Luft zuzufächeln, während er Temple und Maury von oben bis unten mustert.
Gleichzeitig bemerkt sie die Gesichter anderer Männer, die aus den Güterwagen weiter hinten spähen.
Der Alte spuckt in den Dreck und fährt sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. Steckt ihr zwei in Schwierigkeiten?
Weiß nich, antwortet Temple. Sind wir in Schwierigkeiten?
Von uns aus bestimmt nicht.
Gut zu wissen.
Der Alte hinterlässt einen schwarzen Streifen auf seiner Stirn, als er sich den Schweiß abwischt. Wo wollt ihr hin?
Nach Westen.
Besser so. Nach Osten solltet ihr lieber nicht laufen. Da geht’s ziemlich übel zu.
Wirklich?
An Schaben hab ich mich inzwischen gewöhnt. Aber nach einer Weile sieht man mehr, als man will, und schaut lieber nicht mehr hin.
Mhm.
Der Alte deutet mit dem Kinn auf Maury. Was ist das für einer?
Er redet nich. Is bloß ein Dussel.
Erneut fixiert der Alte Temple – aber nur neugierig und nicht, weil er es irgendwie auf sie abgesehen hat. Wie alt bist du?
Fünfzehn. Sie schummelt ein wenig, um den väterlichen Instinkt des Mützenträgers anzusprechen.
Fünfzehn! Du bist zu jung, um einfach so in der Gegend rumzustreifen. Viel zu jung.
Hab versucht, älter zu sein, erwidert sie. Aber so was lässt sich schwer erzwingen.
Glucksend reibt er sich über die Augen. Sein Blick wandert über die Sträucher zum Fluss und wieder zurück zu Temple. Was hast du da hinter dem Rücken?
Sie hebt das Gurkhamesser hoch, um es ihm zu zeigen.
Was wolltest du denn damit?
Wenn du mich angegriffen hättest, hätt ich dich damit umgebracht.
Der Alte schaut sie an, die Augen so still wie Froschtümpel nach einem Gewitter, wenn die Luft nur so klebt vor Ozon. Dann bricht er in Lachen aus.
Der Alte heißt Wilson. Er und seine Leute, insgesamt acht, betreiben die Eisenbahn zwischen Atlanta und Dallas. Sie lesen Streuner
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