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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alden Bell
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wie man es von unten hält und von der Seite betrachtet, damit es wirkt, als würde es durch die Luft fliegen.
    Probier’s mal. Siehst du? Siehst du, wie es fliegt? Ganz schnell sogar, findest du nicht? Aber echte Kampfjets sind noch viel schneller. Die durchbrechen sogar die Schallmauer.
    Maury betrachtet das Spielzeug zwischen seinen Fingern, und alles an ihm wird ruhig und friedlich.
    Das gefällt dir, was? Hast bestimmt als kleiner Junge einen Haufen Flieger gesehen, hm? Kannst dich wahrscheinlich noch gut daran erinnern. Ich hab auch ein paar gesehen, aber nich viele.
    Sie blickt ihm in die Augen.
    Ich hab das Gefühl, dass du im Kopf davonfliegst, Maury. Mit Karacho durch die Wolken, das is doch was. Ja, das mach ich auch gern.
    Sie kehrt den Verlorenen und Erniedrigten und Toten den Rücken, überlässt sie ihrem zugigen Grab, um mit dem großen Mann neben ihr hinauf zum Himmel zu spähen und dort nicht nur Tore und Engel zu entdecken, sondern auch noch andere Wunder, wie zum Beispiel Flugzeuge, die schneller fliegen als der Schall, Statuen größer als jeder Mensch, Wasserfälle größer als jede Statue, Häuser größer als jeder Wasserfall und Geschichten, die noch größer sind und die dich am Hosenbund hinauf bis zur Spitze des Mondes lupfen, von wo aus du die ganze Erde sehen und erkennen kannst, dass sie in Wirklichkeit nicht mehr ist als eine kleine Murmel, kindisch und kostbar zugleich.
    Beim nächsten Halt des Zugs steigt sie mit Maury in den angrenzenden Güterwaggon. Dort sind weniger Leute, weil er nicht so komfortabel ausgestattet ist. Im anderen Wagen gibt es Matratzen, Wasserflaschen, eine durchgesessene alte Couch und mehrere Stühle. Dieser Waggon hingegen ist fast leer. Ein paar von Wilsons Leuten klettern von nebenan herüber, wenn es ihnen in ihrem Wagen zu laut wird. Es gibt noch andere Gestalten hier, die sitzend an den Wänden lehnen, die Augen hin und wieder erleuchtet von der Glut ihrer Zigaretten. In der Ecke schläft ein Mann mit seinem Stetson auf der Brust.
    Sie nimmt Maury an der Hand und führt ihn in eine dunkle Ecke, um vielleicht ein wenig Ruhe zu finden. Sie fordert Maury auf, sich hinzulegen, dann lässt sie sich neben ihm nieder, faltet die Hände unter den Kopf und wartet darauf, vom Schaukeln des Zuges in den Schlaf gewiegt zu werden.
    In ihren Träumen taucht ein Mann auf. Zuerst denkt sie, es ist Onkel Jackson, weil er den Arm um sie legt und weil Malcolm hinter ihm steht. Aber Malcolm macht so ein komisches Gesicht, und sie weiß, da stimmt etwas nicht. Er wirkt ängstlich, und sie will ihm erklären, dass er sich nicht fürchten muss. Doch er deutet auf ihren Unterarm, der noch immer um Onkel Jacksons Rücken geschlungen ist, und sie bemerkt, dass ihre Haut mit Eiterbeulen übersät ist, und denkt, komisch, ich muss schon tot sein und hab gar nix davon gemerkt. Dann möchte sie sich bei Malcolm entschuldigen, er hat zu Recht Angst vor ihr, weil sie ihn sofort auffressen wird, sobald sich die Gelegenheit ergibt, angefangen bei seinen Wangen. Gerne würde sie ihm auch erklären, dass dieser Drang zu verzehren sich nicht sonderlich von dem Drang zum Beschützen und zum Betreuen unterscheidet, aber vielleicht liegt das auch nur an ihrer verdrehten Denkweise. Doch dann umfängt Onkel Jacksons Arm sie noch fester, und sie erkennt, dass er einen Bart hat, der sie im Gesicht kitzelt, obwohl er immer glattrasiert war, und dass das gar nicht Onkel Jackson ist. Und sie will sagen, warte Mose, warte Mose, aber sie bringt nichts heraus, denn Moses Todd drückt ihr die Luft ab, weil sie ein Fleischsack ist und weil Moses Todd Fleischsäcke sogar noch mehr hasst als Temple, und daher leuchtet es ihr ein, dass er sie zu Tode quetschen will und dass Malcolm Angst vor ihr hat, natürlich leuchtet es ihr ein …
    Als sie die Augen aufschlägt, ist es tatsächlich so: Moses Todd ist hier im Güterwaggon und beugt sich über sie. Ja, wen haben wir denn da!
    Instinktiv keilt sie aus, ein blitzschneller Kinnhaken, dann wälzt sie sich unter ihm weg und springt auf.
    Whoa, entfährt es ihm.
    Doch schon packt sie ihn mit einer Hand am Kragen, während die andere das Gurkhamesser aus der Scheide zerrt und zum tödlichen Schlag ausholt.
    Hey. Er weicht vor ihr zurück und hält ergeben die Hände hoch. Ganz ruhig, Schätzchen. Ich bin’s. Ich tu dir nichts. Ich bin’s, Lee.
    Lee.
    Ihr Blick durchdringt das Halbdunkel des Güterwaggons, und die Phantasmen des Schlafes weichen von ihr.

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