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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alden Bell
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der Dose, oder ob du das Gefühl hast, dass diese Gemeinheiten genau das sind, woraus dein Herz und Bauch und Hirn bestehen.
    Sie schüttelt die Vorstellung ab, setzt sich gerade auf und verschränkt die Arme über der Brust.
    Spielt keine Rolle, sagt sie. Das kommt einfach, wenn du zu viel nachdenkst. Deswegen kannst du dich nich lang aufhalten. Du musst dafür sorgen, dass das Hirn immer müde is, damit es nich anfängt, über irgendwelche Sachen nachzugrübeln.
    Er nickt und zieht an seiner Zigarette. Kann ich dir trotzdem eine Frage stellen?
    Probier’s.
    Vorhin, wo du auf mich losgegangen bist. Mit wem hast du mich da verwechselt?
    Das is eine von den Sachen, über die ich nich nachdenken möchte.
    Wer?
    Ein Mann, den ich seinem Tod überlassen hab.
    Wilson fährt den Zug so langsam, dass jeder, der mitfahren will, ihn anhalten kann, aber auch so schnell, dass die Schaben nicht hinaufklettern können. Manchmal versuchen sie es und strecken den Arm nach dem Metallrand aus. Ab und zu krallen sie sich sogar fest und werden Hunderte von Metern mitgeschleift, ehe sich ihr Griff löst und sie beiseitegeschleudert werden wie Dreckklumpen.
    Mitunter, wenn sie auf den Gleisen liegen, werden sie vom Zug zermalmt und in breiig organischen Abfall verwandelt.
    Nachts ist es stockdunkel. Die Fahrlichter am Zug dringen kaum bis zu den dornig wuchernden Büschen vor, in denen sie immer wieder die bleichen Gesichter der Toten erkennen kann, die ihr nachblicken, als würden die Schienen direkt in einen finsteren Hades führen, wo die Schar der Geister wartet, um den Pilgern aus einer anderen Welt ihren Respekt zu entbieten.
    In der Ferne blitzt bisweilen der Schimmer eines Feuers auf, matt und unerbittlich. Wilson behauptet, dass es Luftspiegelungen sind, nächtliche Trugbilder, die vor jedem zurückweichen, der sich auf die Suche nach ihnen macht. Wie die glitzernden Sylphen aus alten Zeiten, die die Reisenden über Abgründe oder in labyrinthartige, endlose Höhlen lockten. Nicht alle Magie der Erde ist wohlwollend. Temple beobachtet sie genau, und manchmal scheinen sie ganz nah, diese dunstig glühenden Lichter, nur knapp außer Reichweite, und sie merkt, dass sie sich unwillkürlich nach vorn beugt und den Arm durch die Waggontür hinausstreckt in die Dunkelheit.
    Das ist eine gute Strategie für eine schnelle Amputation, Kleine, mahnt einer von Wilsons Männern, und sie zieht den Arm zurück.
    Am nächsten Tag, einem Sonntag, steigen einige von Wilsons Leuten in den Flüchtlingswagen, um einen christlichen Gottesdienst abzuhalten. Der Mexikaner Popo liest mit leiser Leierstimme aus der Bibel vor.
    Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit.
    Der Feind, der sie sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel.
    Gleichwie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird’s auch am Ende dieser Welt gehen.
    Sie beten. Manche bleiben stumm, manche murmeln vor sich hin, manche blasen ihren Zigarettenrauch hinauf zu Gott im Himmel. Temple schaut zu. Der Gott, den sie kennt, ist so groß, dass er das Flehen der kümmerlichen Wanderer auf der Erde nicht braucht. Gott ist ein schlauer Gott mit unvergleichlichen Zaubertricks – Lichter, die dich in den Bauch der Bestie locken, oder manchmal auch andere Lichter wie der Mond und die leuchtenden Fische, die dich wieder herausführen.
    Die Nacht bricht herein, und als die Sonne wieder herauskommt, scheint sie auf eine reglose Wüste, auf Straßen voller verrosteter, kaputter Autos, auf Steppenorte mit verbogenen Wegweisern, deren Pfeile völlig sinnlos zu Boden oder hinauf zum Himmel zeigen, auf Plakate, deren fröhliche Bilder und farbige Texte in der Brise flattern, auf Schaufenster, an denen der Dreck von Jahrzehnten klebt, auf Fahrräder, die mitten auf Kreuzungen fallen gelassen wurden und deren luftlose Reifen sich langsam drehen wie kraftlose Windmühlen, auf verkohlte und ausgebrannte oder halb eingestürzte Gebäude, auf in der Mitte auseinandergeborstene mehrstöckige Mietshäuser, die sich wie eine Reklame für Wohnsilos erheben, die Bilder unverändert an aufrechten Wänden, die Fernseher wippend über der Abbruchkante im Boden, wo der Rest des Wohnzimmers hinuntergekippt ist, um mit anderen Trümmern einen Hügel aus Beton und Schutt zu bilden.
    Bei einem flüchtigen Blick auf die Landschaft könnte man meinen, dass hier nicht etwa eine Verwüstung über die Welt

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