Nach dem Ende
Schule gesehen. Ich bin hier geboren und war noch nirgends sonst, nur einmal mit dem Zug in Dallas. An anderen Orten ist es nicht sicher.
Ich kenn nix anderes als unsicher.
Temple, du solltest nicht nix sagen.
Warum nich?
Gossensprache. Er klingt, als würde er jemanden zitieren. Damit macht man einen unkultivierten Eindruck.
Gossensprache is die einzige Sprache, die ich kann.
Wie alt bist du?
Weiß nich. Welches Datum haben wir heute?
Dirk schielt auf seine Digitaluhr. Der vierte August.
Dann bin ich jetzt wohl sechzehn. Letzte Woche war mein Geburtstag.
Sie versucht sich zu erinnnern, was sie an dem Tag getan hat, aber wenn man unterwegs ist, verschwimmen die Grenzen zwischen den Tagen.
Sechzehn!, kräht er fröhlich. Ich bin auch sechzehn. Möchtest du mich zu einem Date begleiten?
Date?
Wir können in den Imbiss gehen und eine Cola trinken.
Mit Eis?
Sie servieren es immer mit Eis.
Okay, dann gehen wir zu dem Date.
Sie schlendern zum Imbiss, und Dirk will unbedingt ihre Hand halten. Er ist enttäuscht, als ihnen Maury schweigend folgt, aber sie weigert sich, ihn zurückzulassen. Der Imbiss ist ein echter Imbiss mit Theke, Hockern und Tischen, wie sie ihn bisher nur in einem Zustand staubiger Verwahrlosung am Straßenrand gesehen hat. Dirk möchte an einem Tisch Platz nehmen, aber Temple will sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, an einem richtigen Tresen zu sitzen. Also lassen sie sich alle drei nebeneinander auf Barhockern nieder. Dirk bestellt drei Cola und packt sogar für Maury den Strohhalm aus, um seine Ritterlichkeit zu beweisen.
Magst du Musik?, fragt Dirk.
Gibt es Leute, die keine Musik mögen?
Wir haben Glück, wir haben einen richtigen Musikladen in der Stadt. Gleich ein paar Häuser weiter. Ich wette, ich könnte hundert Musiker aufzählen, von denen du noch nie gehört hast.
Die Wette würdest du glatt gewinnen.
Ich mag ein bisschen Rock and Roll, aber vor allem hör ich mir klassische Komponisten an. Tschaikowsky und Rachmaninow und Smetana. Das ist Musik für wirklich kultivierte Leute. Hast du schon mal Dvořáks neunte Sinfonie gehört? Das Schönste, was es gibt auf der Welt, da hat man das Gefühl, alles ist möglich.
Er plappert weiter über Dinge, die Temple zum größten Teil völlig fremd sind. Sie schlürft ihr Cola, fischt Eiswürfel aus dem Glas und zerbeißt sie mit den Zähnen. Die Welt, die er ihr schildert, kommt ihr nett und niedlich vor, andererseits will sie nicht so recht passen zu den Dingen, die sie erlebt, und zu den Menschen, die sie kennengelernt hat. Trotzdem gefallen ihr seine großen Zukunftsvisionen, und sie denkt nicht im Traum daran, ihm seine Illusionen zu rauben.
Er erzählt ihr, dass die Verwaltung plant, die Absperrungen zu verschieben und den Ort Block für Block zu erweitern, bis sie die ganze Stadt zurückerobert haben. Sie brauchen nur Leute zur Sicherung der Grenzen, und es kommen ja ständig neue Siedler, starke Menschen, die Können, Verstand und Optimismus mitbringen.
Und wenn wir erst mal Longview wiederhaben, dann geht es weiter. Seine Gesten werden immer ausladender. Nach Osten bis nach Dallas und nach Süden bis nach Houston. Wir können es schaffen. Wir brauchen bloß Menschen. Und wenn wir uns mit diesen Städten verbinden, können wir den Rest von Texas stürmen und ihn für die Zivilisation zurückgewinnen, und bei unserem Vormarsch können wir aus unseren Lautsprechern Dvo ř ák erschallen lassen, weil er die Musik für eine neue Welt geschrieben hat. Wir werden eine neue Welt errichten, und dann bleibt den Schlingern bald nur noch der Weg ins Meer.
Schlinger?
Du weißt schon, antwortet er. Da draußen. Wie nennst du sie?
Komischer Name. Hab ich noch nie gehört.
Ach. Er wirkt ernüchtert.
Zuerst bedauert sie, überhaupt etwas gesagt zu haben, dann ist sie genervt, weil ihr dieser Junge mit der silbernen Gürtelschnalle leidtun soll.
Doch er reißt sich zusammen und wirft sich erneut in eine Schleife aus Optimismus und Frohsinn. Er fasst sie an der Hand und führt sie zu einem Rundgang durch alle neun abgesperrten Häuserblocks von Longview.
Ihre Hand wird schon ganz feucht, und sie will sie ihm entziehen, aber er lässt nicht los. Lächelnd redet er mit ihr und schaut geradeaus, als würde er darauf vertrauen, sie nach ihrer Heirat noch ein ganzes Leben lang ansehen zu können.
Was machst du gern?, erkundigt er sich.
Wie meinst du das?
Immer fragst du, was ich meine, Temple. Das ist irritierend. Seufzend
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