Nach Dem Sommer
ging dann noch ein paar Schritte auf den Wald zu. Einen Augenblick lang stand er so da, den Kopf auf eine Art zur Seite geneigt, die ich wiedererkannte. Er lauschte.
»Was macht der denn da?«, fragte Isabel, doch ich antwortete nicht.
Beck formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, ich konnte ihn sogar im Haus noch deutlich verstehen.
»Sam!«, rief er, und noch einmal: »Sam! Ich weiß, dass du da draußen bist! Sam! Sam! Weißt du noch, wer du bist? Sam!«
Schlotternd rief Beck weiter Sams Namen in den leeren, eisigen Wald, bis er strauchelte und sich kurz vor dem Hinfallen gerade noch fing.
Ich hielt die Hände vor den Mund gepresst. Tränen rannen mir die Wangen hinunter.
Noch einmal rief Beck nach Sam, und dann krümmten sich seine Schultern, zogen sich zusammen und zuckten, mit den Händen und Füßen wirbelte er den Schnee um sich auf. Er verhedderte sich in seinen Kleidern, die plötzlich zu weit um seinen Körper hingen, kroch rückwärts heraus und schüttelte dann den Kopf, um sich vollends zu befreien.
Der graue Wolf stand mitten im Garten und sah zurück zur Glastür, beobachtete uns, wie wir ihn beobachteten. Er machte einen Schritt von den Kleidern weg, die er nie wieder tragen würde, wandte den Kopf in Richtung Wald und erstarrte.
Zwischen den steil aufragenden schwarzen Kiefern trat ein zweiter Wolf hervor, mit wachsam geneigtem Kopf und schneebestäubtem Pelz. Seine Augen fanden mich hinter der Scheibe.
Sam.
Kapitel 60 - Grace (2°C)
D er Abend war stahlgrau, am Himmel spannte sich eine endlose Decke frostiger Wolken, die auf den Schnee und die Nacht warteten. Die Reifen des Geländewagens knirschten über die mit Streusalz bedeckte Straße und der Schneeregen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Hinter dem Lenkrad beschwerte sich Isabel unaufhörlich, dass es nach »nassem Köter stank«, aber für mich waren das Kiefern und Erde, Regen und Moschus. Vermischt mit dem scharfen, ansteckenden Unterton der Angst. Auf dem Beifahrersitz wimmerte Jack, halb Mensch, halb Tier, leise vor sich hin. Olivia saß neben mir auf dem Rücksitz. Sie hatte ihre Finger so fest um meine geschlungen, dass es wehtat.
Hinter uns lag Sam. Als wir ihn ins Auto gehievt hatten, hatte er in festem, betäubungsmittelschwerem Schlaf gelegen. Jetzt waren seine Atemzüge tief und ungleichmäßig, und ich versuchte, ihnen über das Geräusch des Schneematschs, der von den Reifen spritzte, zuzuhören. Ich wollte zumindest irgendeine Verbindung zu ihm aufrechterhalten, wenn ich ihn schon nicht berühren durfte. Er war zwar so stark betäubt, dass ich mich zu ihm setzen und mit den Fingern durch sein Fell hätte fahren können, aber das wäre für ihn wie Folter gewesen.
Er war jetzt ein Tier. Zurück in seiner eigenen Welt, weit weg von mir.
Isabel parkte vor der kleinen Klinik. Um diese Zeit war der Parkplatz nicht mehr beleuchtet und auch die Klinik war nur als grauer Würfel auszumachen. Sie sah nicht aus wie ein Ort, an dem Wunder geschahen, sondern wie ein Ort, an den man kam, wenn man krank war und arm. Schnell verdrängte ich den Gedanken aus meinem Kopf.
»Ich hab Mom die Schlüssel geklaut«, sagte Isabel, die bewundernswerterweise gar nicht nervös klang. »Kommt jetzt. Jack, kriegst du s hin, dich zusammenzureißen und niemanden anzufallen, bevor wir drin sind?«
Jack murmelte etwas, was sich nicht wiedergeben lässt. Ich warf einen Blick in den Kofferraum; Sam stand schwankend, aber aufrecht da. »Beeil dich, Isabel, das Benadryl wirkt bald nicht mehr.«
Isabel riss die Handbremse hoch. »Wenn wir verhaftet werden, sag ich denen, ihr hättet mich entführt und dazu gezwungen.«
»Komm jetzt!«, fuhr ich sie an. Ich öffnete meine Tür; Olivia und Jack zuckten beide zusammen, als die Kälte sie traf. »Beeilt euch -ihr zwei müsst rennen.«
»Ich komm gleich wieder und helfe dir mit ihm«, versprach Isabel und sprang aus dem Wagen. Ich drehte mich wieder zu Sam um, dessen Augen langsam zu mir hochrollten. Er machte einen desorientierten, benommenen Eindruck.
Einen Moment lang ließ sein Blick mich erstarren. Ich dachte an Sam, wie er Nase an Nase mit mir im Bett lag und mir in die Augen sah.
Er gab einen leisen, ängstlichen Laut von sich.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm.
Dann kam Isabel zurück und ich ging um das Auto herum, um ihr zu helfen. Sie zog den Gürtel aus und wand ihn fachmännisch um Sams Schnauze. Ich zuckte zusammen, konnte sie aber auch nicht bitten, es nicht
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