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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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fruchtloses Unterfangen stürzte.
    Ich wusste nicht so recht, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte, ohne Grace und ohne mein Rudel. Es war wie eine Stunde lang auf den Bus warten zu müssen - zu wenig Zeit, um etwas Richtiges damit anzufangen, aber zu viel, um bloß herumzusitzen.
    Die beißende Kälte in jedem Windstoß erinnerte mich daran, dass ich früher oder später in meinen Bus würde einsteigen müssen.
    Schließlich fuhr ich mit dem Bronco zur Post. Ich hatte den Schlüssel zu Becks Postfach, in Wirklichkeit aber wollte ich bloß in Erinnerungen schwelgen und so tun, als könnte er mir zufällig dort über den Weg laufen.
    Ich dachte an den Tag, als Beck mit mir dorthin gefahren war, um meine Schulbücher abzuholen - es war ein Dienstag gewesen, daran erinnere ich mich, denn früher war der Dienstag mein Lieblingstag gewesen. Warum, weiß ich nicht mehr - ich fand irgendwie, dass der Tag durch das ie so hell und freundlich klang. Ich bin immer  gerne mit Beck zur Post gefahren; damals kam es mir dort vor wie in einer Schatzkammer: Reihen um Reihen kleiner verschlossener Fächer, die ihre Überraschungen und Geheimnisse nur demjenigen preisgaben, der den passenden Schlüssel besaß.
    Sonderbar klar erinnerte ich mich an die Unterhaltung mit Beck, bis hin zu seinem Gesichtsausdruck: »Sam, komm schon, Kumpel.«
    »Was ist das denn?«
    Beck ächzte unter dem Gewicht eines riesigen Pakets und versuchte vergeblich, die Glastür aufzudrücken, indem er sich mit dem Rücken dagegenlehnte. »Dein Gehirn.«
    »Ich hab doch schon ein Gehirn.«
    »Glaub ich nicht, sonst hättest du mir hier schon längst mal mit der Tür geholfen.«
    Mit finsterem Blick sah ich noch ein paar Sekunden länger zu, wie er sich mit der schweren Tür abmühte, dann duckte ich mich unter seinem Arm hindurch und stieß die Tür auf. »Was ist da wirklich drin?«
    »Schulbücher. Du sollst eine ordentliche Schulbildung bekommen, damit du später mal kein Idiot wirst.«
    Ich weiß noch, wie fasziniert ich von dieser Instantschule war -nur Wasser und Sam hinzufügen, umrühren, fertig!
    Der Rest des Rudels war genauso begeistert wie ich. Ich war das erste Rudelmitglied, das noch zur Schule ging, als es gebissen wurde, und die anderen brannten darauf, mich zu unterrichten. Einige Sommer lang wechselten sie sich ab mit dem dicken Lehrerhandbuch und den schönen, neuen Büchern, die noch nach frischer Druckertinte dufteten. Von morgens bis abends stopften sie mir den Kopf mit Wissen voll: Ulrik brachte mir Mathe bei, Beck Geschichte, Paul Englisch und später auch die Naturwissenschaften. Beim Abendessen riefen sie mir über den Tisch Testfragen zu, sie dachten sich kleine Lieder aus, damit ich mir die Reihenfolge der toten Präsidenten besser merken konnte, und verwandelten eine der Esszimmerwände in eine gigantische Schultafel, an der immer die Wörter des Tages standen und schmutzige Witze, zu denen sich natürlich nie einer bekennen wollte.
    Als ich mit der ersten Ladung Bücher durch war, packte Beck sie wieder ein und brachte ein neues Paket mit. Wenn ich nicht gerade über meiner Paketschule saß, beschaffte ich mir im Internet eine andere Art von Bildung. Ich surfte nach Fotos von Zirkusfreaks, nach Synonymen für das Wort »Geschlechtsverkehr« und nach einer Antwort auf die Frage, warum ein abendlicher Sternenhimmel mein Herz mit Sehnsucht erfüllte.
    Zeitgleich mit dem dritten Bücherpaket kam auch ein neues Rudelmitglied: Shelby, ein sonnengebräuntes, schlankes Mädchen, das mit blauen Flecken übersät war und sich mit einem dicken Südstaatenakzent abschleppte. Ich erinnerte mich, wie Beck zu Paul sagte: »Ich konnte sie einfach nicht da lassen. Mein Gott, Paul! Du hast nicht gesehen, wo sie herkommt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was die da mit ihr gemacht haben.«
    Ich hatte Mitleid mit Shelby, die sich von den anderen zurückzog. Mir war es als Einzigem gelungen, ein wackeliges Floß zu bauen, mit dem ich vorsichtig zu der kleinen Insel namens Shelby übersetzen konnte; dann und wann entlockte ich ihr ein paar Worte und manchmal sogar ein Lächeln. Sie war sonderbar, wie ein scheues Tier, das um jeden Preis die Kontrolle über sein Leben zurückerlangen wollte. Sie stahl Sachen von Beck, sodass er ständig fragen musste, ob jemand sie gefunden hatte, sie spielte am Thermostat herum, damit Paul vom Sofa aufsprang, um es wieder zu reparieren, sie versteckte meine Bücher, damit ich mit ihr redete, anstatt zu lesen. Aber

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