Nach Dem Sommer
waren wir nicht alle gestrandete Existenzen in diesem Haus?
Schließlich war ich der Junge, der den Anblick eines Badezimmers nicht ertragen konnte.
Beck hatte auch ein Paket mit Büchern für Shelby bei der Post abgeholt, aber sie bedeuteten ihr einfach nicht so viel wie mir. Sie ließ sie herumliegen, bis sie einstaubten, und suchte stattdessen im Internet nach Artikeln über Wolfsverhalten.
Da stand ich nun, vor Becks Postfach, Nummer 730. Ich fuhr mit dem Finger über die abgeblätterte Farbe der Ziffern; schon als ich zum ersten Mal hier gewesen war, hatte man die Drei kaum noch erkennen können. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, doch ich drehte ihn nicht herum. War es falsch, sich so sehr danach zu sehnen? Nach einem normalen Leben mit Grace, einem normalen Jahresablauf, ein paar Jahrzehnten, in denen ich Schlüssel in Postfächern umdrehte, im Winter in einem Bett schlief und jedes Jahr einen Weihnachtsbaum aufstellte?
Dann dachte ich wieder an Shelby und die Erinnerung schmerzte, fühlte sich kalt an neben dem Gedanken an Grace. Shelby hatte es immer lächerlich gefunden, dass ich so sehr an meinem menschlichen Leben hing. Ich erinnerte mich an den schlimmsten Streit, den wir darüber gehabt hatten. Nicht der erste und auch nicht der letzte, aber der bitterste. Damals lag ich auf meinem Bett und las Gedichte von Yeats, die Ulrik mir mitgebracht hatte, als plötzlich Shelby auf die Matratze sprang. Sie trat dabei auf die Seiten des Buches und zerknitterte sie unter ihren nackten Füßen.
»Komm, hör dir mal das Heulen an, das ich im Internet gefunden hab«, rief sie.
»Ich lese gerade.«
»Das ist aber wichtiger als lesen«, entgegnete sie und baute sich vor mir auf, während sie mit den Zehen immer weiter die Seiten verknüllte. »Wieso liest du dieses Zeug überhaupt?« Sie deutete auf den Stapel Schulbücher auf dem Schreibtisch neben meinem Bett. »Damit kannst du sowieso nichts anfangen, wenn du erwachsen bist. Dann bist du nämlich kein Mensch mehr. Du bist dann ein Wolf, also solltest du lieber was über Wölfe lernen.«
»Halt den Mund«, erwiderte ich.
»Aber es stimmt doch. Du bist dann nicht mehr Sam. Diese ganzen Bücher sind doch reine Zeitverschwendung. Irgendwann bist du ein Alphamännchen. Darüber hab ich was gelesen. Und ich bin deine Partnerin. Das Alphaweibchen.« Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet.
Ich zerrte Yeats unter ihrem Fuß hervor und strich die Seite wieder glatt. »Ich werde immer Sam sein. Ich werde nie damit aufhören, Sam zu sein.«
»Wirst du doch!« Shelby wurde lauter. Sie sprang vom Bett und stieß meinen Bücherstapel um; Tausende von Wörtern stürzten polternd zu Boden. »Du machst dir doch bloß was vor! Wir haben dann keine Namen mehr, wir sind dann Wölfe!«
Ich schrie sie an. »Halt den Mund! Ich kann immer noch Sam sein, auch wenn ich ein Wolf bin!«
Da stürzte Beck ins Zimmer und, wie es seine Art war, betrachtete erst einmal still die Szene, die sich ihm bot: meine Bücher, mein Leben, meine Träume zerknittert unter Shelbys Füßen; ich auf meinem Bett, den mitgenommenen Yeats so fest an mich gedrückt, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Was ist hier los?«, fragte Beck.
Shelby stieß einen Finger in meine Richtung. »Sag s ihm! Sag ihm, dass er nicht Sam bleiben kann, wenn wir erst Wölfe sind. Dass es nicht geht. Dass er sich dann nicht mal mehr an seinen Namen erinnern kann. Und dass ich dann nicht mehr Shelby bin.« Sie zitterte vor Wut.
Becks Stimme war so leise, dass ich kaum hören konnte, was er sagte. »Sam wird immer Sam sein.« Er griff Shelby beim Oberarm und zog sie mit sich aus dem Zimmer, dabei rutschte sie beinahe auf meinen Büchern aus. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben; seit sie bei uns war, hatte Beck darauf geachtet, sie nie zu berühren. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. »Wag es nicht, ihm irgendetwas anderes zu erzählen, Shelby. Sonst bringe ich dich wieder dahin zurück, wo du herkommst. Sonst bringe ich dich zurück.«
Im Flur fing Shelby an zu schreien und hörte nicht wieder auf, bis Beck ihre Zimmertür hinter ihr zuschlug.
Auf dem Rückweg kam Beck an meinem Zimmer vorbei und blieb im Türrahmen stehen. Ich war gerade dabei, meine Bücher vorsichtig auf dem Schreibtisch aufzustapeln. In meinem Kopf aber hörte ich noch immer das Echo ihrer Worte.
Ich dachte, Beck wollte etwas sagen, aber er hob nur ein Buch vom Boden auf und legte es auf meinen Stapel, dann ging er
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