Nach Dem Sommer
unbedingt meinen Beifall fand, denn sie fügte hastig hinzu: »Vielleicht hab ich bisher ja auch bloß die falschen erwischt.«
»Oder vielleicht liest du sie auch falsch«, entgegnete ich. Ich hatte Grace' Noch-zu-lesen-Stapel schließlich gesehen: alles Sachbücher, Fakten, nichts über das, was nicht greifbar war. »Du musst auf den Rhythmus der Worte achten und nicht nur darauf, was gesagt wird. Wie bei einem Song.«
Sie runzelte skeptisch die Stirn, also blätterte ich in meinem Buch und rutschte näher an sie heran, bis unsere Hüften sich berührten.
Grace warf einen flüchtigen Blick auf die Seite. »Das ist ja noch nicht mal Englisch!«
»Doch, manche schon«, sagte ich. »Mit Rilke hat Ulrik mir Deutsch beigebracht«, erinnerte ich mich seufzend. »Und jetzt bringe ich dir damit Lyrik bei.«
»Was für mich ganz klar eine Fremdsprache ist«, ergänzte Grace.
»Ganz klar«, bestätigte ich. »Hör einfach mal zu, auch wenn du kein Wort verstehst. >Was soll ich mit meinem Munde? Mit meiner Nacht? Mit meinem Tag? Ich habe keine Geliebte, kein Haus, keine Stelle, auf der ich lebe.«<
Ratlos guckte Grace mich an. Frustriert kaute sie auf ihrer Unterlippe und sah dabei unglaublich süß aus. »Und was heißt das jetzt?«
»Ist doch egal. Wichtig ist, wie es sich anhört. Nicht nur, was es heißt.« Ich rang nach Worten, um ihr zu verdeutlichen, was ich meinte. Ich wollte sie daran erinnern, wie es gewesen war, als sie sich in mich - mein Wolfsich - verliebt hatte. Ohne Worte. Wie sie die offensichtliche Semantik meines wölfischen Äußeren durchblickt und mein Inneres verstanden hatte. Wo ich, was auch immer mich dazu machte, Sam war und immer bleiben würde.
»Lies es mir noch mal vor«, bat Grace.
Ich las es ihr noch mal vor.
Sie schlug mit den Fingern den Takt auf dem Lenkrad mit. »Es hört sich so traurig an«, sagte sie. »Du lächelst - dann hab ich wohl recht.«
Nun las ich es ihr auf Englisch vor. Nach wenigen Zeilen brach ich ab. »Pfiff. Diese Übersetzung ist so was von blöd. Ich habe eine viel bessere, die hole ich morgen mal aus Becks Haus. Aber du hast recht, es ist traurig.«
»Krieg ich jetzt einen Preis?«
»Vielleicht«, antwortete ich, nahm ihre Hand und verschränkte meine Finger mit ihren. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, hob sie unsere verschlungenen Hände an die Lippen. Sie gab mir einen Kuss auf den Zeigefinger, nahm ihn dann zwischen die Zähne und biss mich sanft.
Als sie zu mir herübersah, lag eine unausgesprochene Herausforderung in ihren Augen.
Ich war ganz und gar gefangen. Ich wollte, dass sie anhielt - ich musste sie einfach küssen.
Doch dann sah ich den Wolf.
»Grace, halt an - stopp!«
Sie warf den Kopf herum, um zu sehen, was ich sah, aber der Wolf war schon über den Straßengraben gesprungen und im spärlichen Unterholz am Waldrand verschwunden.
»Grace, halt! «, wiederholte ich. »Jack.«
Sie trat auf die Bremse; der Bronco schlingerte, als sie ihn an den
Straßenrand lenkte. Ich wartete nicht, bis das Auto zum Stehen kam, sondern stieß die Tür einfach auf und stolperte nach draußen. Als ich auf dem gefrorenen Boden landete, schienen meine Fußknöchel förmlich aufzuschreien. Ich ließ den Blick durch den Wald vor mir schweifen. Aus den Bäumen drang dichter, stechender Qualm, der sich mit den schweren weißen Wolken verband, die über uns hingen; am anderen Ende des Waldes verbrannte jemand Laub. Durch den Rauch sah ich den blaugrauen Wolf, der ein Stück weiter zögernd stehen blieb, nicht sicher, ob er verfolgt wurde. Die kalte Luft krallte sich in meine Haut, der Wolf sah mich über die Schulter hinweg an. Haselnussbraune Augen. Jack. Er musste es sein.
Und dann war er fort, von einem Moment auf den anderen tauchte er im Rauch unter. Ich lief ihm hinterher, nahm den Straßengraben mit einem Sprung und rannte über den kalten, harten Boden des winterlich öden Waldes.
Vor mir bahnte sich Jack krachend den Weg durch das Unterholz; ihm war es nun wichtiger, schnell zu entkommen, als sich dabei unauffällig zu verhalten. Ich folgte dem Gestank seiner Angst, als er vor mir floh. Hier wurde die Sicht immer schlechter, man konnte kaum sehen, wo der Qualm aufhörte und der Himmel anfing, der sich in den nackten Zweigen über mir verfangen hatte. Jack war kaum noch auszumachen, er war mit seinen vier Beinen schneller und wendiger als ich und außerdem konnte ihm die Kälte nichts anhaben.
Durch meine tauben Finger schoss ein stechender
Weitere Kostenlose Bücher