Nach Dem Sommer
hörte man von unten ein entsetzliches Krachen. Es war so laut und es wirkte so falsch, dass ihre Mutter und ich uns einen Augenblick nur verständnislos ansahen, als könnten wir gar nicht glauben, dass dieses Geräusch überhaupt echt gewesen war. Dann hörten wir den Schrei.
Und direkt danach ein Knurren. Ohne abzuwarten, was als Nächstes kam, war ich aus der Tür.
Kapitel 36 - Sam (9°C)
I ch weiß noch genau, wie Shelbys Gesicht damals aussah, als sie
mich fragte: »Möchtest du mal meine Narben sehen?«
»Welche Narben?«, fragte ich zurück.
»Die vom Angriff. Von den Wölfen.«
»Nein.«
Sie zeigte sie mir trotzdem. Ihr ganzer Bauch war übersät mit wulstigem Narbengewebe, das unter ihrem BH verschwand. »Das hier war alles Hackfleisch, nachdem sie mich gebissen hatten.«
Ich wollte es gar nicht wissen.
Shelby zog ihr T-Shirt noch immer nicht herunter. »Das muss die Hölle sein, wenn wir töten. Wir sind sicher die schlimmste Art zu sterben.«
Kapitel 37 - Sam (6°C)
E ine Flut von Empfindungen stürzte auf mich ein, als ich im Wohnzimmer ankam. Brutal kalte Luft stach mir in die Augen und schlug mir auf den Magen. Schnell wanderte mein Blick zu dem scharfkantigen Loch in der Verandatür, in deren Rahmen noch die eingerissenen Reste der Scheibe hingen. Überall auf dem Boden lagen spitze, rot verschmierte Scherben, die mir im Licht zublitzten.
Der Sessel in der Essecke war umgekippt. Es sah aus, als hätte jemand rote Farbe auf dem Boden verschüttet, endlos und ungleichmäßig zog sie sich mal in Tropfen, mal in Schlieren von der Tür bis zur Küche. Dann roch ich Shelby. Einen Augenblick lang stand ich nur da, wie erstarrt durch Grace' Abwesenheit, durch die kalte Luft und den Geruch nach Blut und nassem Fell.
»Sam!«
Das musste Grace gewesen sein, auch wenn ihre Stimme seltsam fremd geklungen hatte - als gäbe jemand nur vor, Grace zu sein. Ich stolperte, glitt beinahe in den Blutlachen aus und griff nach dem Türpfosten, um mich in die Küche zu ziehen.
In dem freundlichen Küchenlicht bot sich mir eine surreale Szenerie. Blutige Pfotenabdrücke führten zu Shelby, die, zuckend und gekrümmt, Grace bis an die Spüle zurückgedrängt hatte. Grace kämpfte, trat um sich, doch Shelby war groß und wuchtig und stank
geradezu nach Adrenalin. Ich sah den Schmerz in Grace' ehrlichen, weit aufgerissenen Augen aufflackern, bevor Shelby sie fortzerrte. Dieses Bild hatte ich schon einmal gesehen.
Ich spürte die Kälte nicht mehr. Auf dem Herd stand eine eiserne Bratpfanne, ich griff danach und ihr Gewicht fuhr mir schmerzhaft in den Arm. Auf keinen Fall wollte ich Grace treffen, also schmetterte ich die Pfanne auf Shelbys Hüfte nieder.
Shelby knurrte mich an, ihre Zähne schlugen hart aufeinander. Wir mussten nicht dieselbe Sprache sprechen, ich wusste auch so, was sie mir sagen wollte. Bleib zurück. Ein Bild schob sich mir vor Augen, klar, deutlich, fesselnd: Grace lag auf dem Küchenboden, wand sich, sie starb, und Shelby sah zu. Wie ein Fanfarenstoß drängte sich das Bild in mein Bewusstsein, lähmte mich - so musste es für Grace gewesen sein, als ich ihr das Bild des goldenen Waldes zeigte. Es war wie eine messerscharfe Erinnerung, eine Erinnerung an Grace, wie sie nach Luft rang.
Ich ließ die Pfanne fallen und ging auf Shelby los.
Ich fand die Stelle, an der sie sich in Grace' Arm verbissen hatte, und ließ die Hand bis zu ihrem Kiefer gleiten. Dann presste ich meine Finger in die weiche Haut, ich drückte zu, auf Shelbys Luftröhre, bis sie aufjaulte. Ihr Biss lockerte sich so weit, dass ich mich mit den Füßen von den Küchenschränken abstoßen und sie so von Grace herunterschieben konnte. Wir rollten über den Boden, ihre Krallen schabten und kratzten über das Linoleum und meine Schuhe rutschten quietschend durch das Blut, das sie verlor.
Außer sich vor Wut, fletschte sie unter mir die Zähne, schnappte nach meinem Gesicht, ohne mich jedoch zu beißen. Das Bild von Grace, wie sie leblos dalag, ging mir wieder und wieder durch den Kopf.
Ich erinnerte mich, wie die Hühnerknochen geknackt hatten.
Im Geiste sah ich ganz genau vor mir, wie es wäre, Shelby zu töten.
Sie riss sich von mir los, befreite sich aus meinem Griff, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Dad, nein, pass auf!«, schrie Grace.
Neben mir ging ein Schuss los.
Einen Augenblick lang stand die Zeit still. Nicht vollkommen still, sie tänzelte eher flackernd auf der Stelle, das Licht blitzte
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