Nach Dem Sommer
rausgekommen ist. Das mit dem Mond und den Silberkugeln ist bloß ein Mythos. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Es ist eine Art Krankheit, die sich verschlimmert, wenn es kalt ist. Ich denke mal, die Geschichte mit dem Mond rührt daher, dass es nachts kälter ist und wir uns als neue Wölfe deshalb oft nachts verwandeln. Also haben die Leute eben geglaubt, es läge am Mond.«
Isabel schien das alles ziemlich gefasst aufzunehmen. Sie wurde nicht ohnmächtig und verströmte auch keinen ängstlichen Geruch, sondern nippte einfach an ihrem Kaffee. »Der ist ja ekelhaft, Grace.«
»Ist bloß Instant«, entschuldigte sich Grace.
Isabel fragte weiter: »Erkennt mich mein Bruder, wenn er ein Wolf ist?«
Grace warf mir einen Blick zu; ich konnte ihr bei der Antwort nicht ins Gesicht sehen. »Ganz schwach vielleicht. Ein paar von uns erinnern sich an gar nichts aus ihrem Menschenleben, wenn sie Wölfe sind. Andere wissen noch einige wenige Dinge.«
Grace guckte weg, trank ihren Kaffee, tat unbekümmert.
»Ihr seid also ein Rudel?«
Isabel stellte die richtigen Fragen. Ich nickte. »Aber Jack hat die anderen noch nicht gefunden. Oder sie ihn nicht.«
Eine Weile ließ Isabel nur stumm den Finger über den Rand ihrer Tasse kreisen. Schließlich schweifte ihr Blick von mir zu Grace und wieder zurück zu mir. »Okay, und was ist dann der Haken an der Sache?«
Ich blinzelte. »Was meinst du?«
»Ich meine, du sitzt einfach da und redest und Grace sitzt einfach da und tut so, als wäre alles in Ordnung, aber es ist nicht alles in Ordnung, oder?«
Ich nehme mal an, ihre Intuition hätte mich nicht überraschen sollen. Schließlich hackte man sich ohne gute Menschenkenntnis nicht bis zur Spitze der Highschoolnahrungskette durch. Ich sah hinunter in meine noch immer gefüllte Tasse. Ich mochte keinen Kaffee - er schmeckte mir zu kräftig, zu bitter. Ich war wohl zu lange ein Wolf gewesen, um noch Geschmack daran zu finden.
»Unser Verfallsdatum. Je länger es her ist, dass wir gebissen wurden, desto weniger Kälte ist noch nötig, um uns in Wölfe zu verwandeln. Und desto mehr Wärme brauchen wir, um wieder zu Menschen zu werden. Irgendwann verwandeln wir uns gar nicht mehr zurück.«
»Wie lange?«
Ich sah Grace nicht an. »Das ist von Wolf zu Wolf unterschiedlich. Die meisten haben viele Jahre.«
»Du aber nicht.«
Halt die Klappe, Isabel Ich wollte Grace' Ruhe nicht weiter ausreizen. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf und hoffte, dass Grace tatsächlich aus dem Fenster und nicht zu mir herübersah.
»Was wäre denn, wenn ihr in Florida wohnen würdet oder sonst wo, wo es richtig warm ist?«
Ich war erleichtert, dass es nicht mehr um mich ging. »Das haben ein paar von uns ausprobiert. Es funktioniert nicht. Man reagiert bloß hypersensibel auf die kleinste Temperaturschwankung.«
Ulrik, Melissa und ein anderer Wolf, Bauer, waren vor ein paar Jahren hinunter nach Texas gefahren. Sie hatten gehofft, so dem Winter zu entkommen. Ich konnte mich noch gut an den begeisterten Anruf von Ulrik erinnern, als er sich nach Wochen immer noch nicht verwandelt hatte - und an seine entmutigte Rückkehr, ohne Bauer, nachdem sie an der Tür eines klimatisierten Geschäfts vorbeigegangen waren, die einen Spaltbreit offen stand. Bauer war sofort zum Wolf geworden. Und von Betäubungsgewehren hielt das texanische Veterinäramt offenbar nicht viel.
»Was ist mit dem Äquator? Da verändert sich die Temperatur doch nie?«
»Keine Ahnung.« Ich gab mir Mühe, nicht zu ärgerlich zu klingen. »Von uns hat es noch keiner mit dem Regenwald probiert, aber danke für den Tipp, falls ich mal im Lotto gewinne.«
»Reg dich ab, war ja nur 'ne Frage«, meckerte Isabel und stellte ihre Tasse auf einem Stapel Zeitschriften ab. »Jeder, der gebissen wird, verwandelt sich also?«
Jeder außer dem einen Menschen, den ich gern immer bei mir hätte. »So ziemlich jeder.« Ich merkte, wie müde meine Stimme klang, aber es war mir egal.
Isabel schürzte die Lippen, und ich dachte schon, sie würde noch weiterbohren, aber sie tat es nicht. »Das war's also. Mein Bruder ist ein Werwolf, ein echter Werwolf, und es gibt kein Heilmittel dagegen.«
Grace' Augen wurden schmal. Ich hätte so gern gewusst, was sie dachte. »Ja, genau. Aber das wusstest du doch alles schon. Also, warum hast du uns gefragt?«
Isabel zuckte mit den Schultern. »Na, weil ich eben dachte, dass jeden Moment einer hinter dem Vorhang hervorspringt und ruft:
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