Nach Dem Sommer
Jack getroffen und er meinte, ich dürfte niemandem von ihm erzählen, und da hab ich mich so schuldig gefühlt. Als würde ich was Verbotenes tun.«
Ich starrte sie an. »Du hast mit ihm geredet?«
Unglücklich zuckte Olivia mit den Schultern, sie zitterte in der wachsenden Kälte des Nachmittags. »Ich habe Fotos von den Wölfen gemacht, wie immer, und da hab ich ihn gesehen. Ich hab gesehen, wie er -«, sie senkte die Stimme und beugte sich zu mir herüber, »sich verwandelt hat. Zurück in einen Menschen. Ich konnte es gar nicht glauben. Und er hatte nichts an und es war ja ganz in der Nähe von unserem Haus, da hab ich ihn einfach mitgenommen und ihm was zum Anziehen gegeben, von John. Ich glaube, ich wollte mich einfach nur selbst davon überzeugen, dass ich nicht verrückt bin.«
»Herzlichen Dank«, sagte ich sarkastisch.
Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand. Dann sagte sie eilig: »Oh Grace, ich weiß. Ich weiß, du hast mir das von Anfang an erzählt, aber was sollte ich denn machen - dir das wirklich glauben? Das klingt doch völlig verrückt. Und glaub mir, es sieht noch viel verrückter aus. Aber irgendwie tat er mir leid. Er hat doch jetzt überhaupt kein Zuhause mehr.«
»Und wie lange geht das jetzt schon so, wenn ich fragen darf?« Ich spürte einen Stich - Verrat oder so was Ähnliches. Ich hatte Olivia von Anfang an von meinen Vermutungen erzählt, und jetzt wartete sie, bis ich zu ihr kam, bevor sie mir die Wahrheit sagte.
»Ich weiß nicht. 'ne Weile. Ich hab ihm was zu essen gegeben und seine Klamotten gewaschen und so. Ich weiß nicht, wo er jetzt wohnt. Wir haben viel geredet, bis wir uns über das Heilmittel gestritten haben. Ich hab die Schule geschwänzt, um mit ihm zu reden und um mehr Fotos von den Wölfen zu machen. Ich wollte sehen, ob sich auch einer der anderen verwandeln würde.« Sie hielt kurz inne. »Grace, er hat gesagt, du wurdest auch gebissen und bist wieder gesund geworden.«
»Stimmt. Also, dass ich gebissen wurde. Das wusstest du doch. Aber ich hab mich ganz offensichtlich nie in einen Wolf verwandelt.«
Sie sah mich eindringlich an. »Nie?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Hast du noch jemandem davon erzählt?«
Olivia warf mir einen beleidigten Blick zu. »Ich bin doch nicht blöd.« »Tja, Isabel ist ja auch irgendwie an die Fotos gekommen. Wenn sie das geschafft hat, dann kann das wohl jeder.«
»Ich hab keine Fotos, die wirklich zeigen, was da vorgeht«, entgegnete Olivia. »Wie gesagt, ich bin ja nicht total blöd. Ich hab nur Fotos von vorher und nachher. Und wer würde daraus irgendwelche Schlüsse ziehen?«
»Isabel«, sagte ich.
Olivia runzelte die Stirn. »Ich bin vorsichtig. Außerdem hab ich ihn seit unserem Streit nicht mehr gesehen. Ich muss los.« Sie deutete auf den Bus. »Und du hast dich wirklich nie verwandelt?«
Jetzt war es an mir, ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen. »Ich hab dich noch nie angelogen, Olive.«
Sie sah mich eine ganze Weile an. Dann fragte sie: »Willst du mit zu mir nach Hause kommen?«
Irgendwie wollte ich, dass sie sich bei mir entschuldigte. Dafür, dass sie mir nichts gesagt hatte. Mich nicht zurückgerufen hatte. Sich mit mir gestritten hatte. Nicht »Du hattest recht« gesagt hatte. Also sagte ich nur: »Ich warte auf Sam.«
»Okay. Dann vielleicht in den nächsten Tagen mal?«
Ich blinzelte. »Vielleicht.«
Und dann war sie weg, im Bus verschwunden, und nur noch ein Schatten hinter der Scheibe, der sich seinen Weg in den hinteren Teil des Busses bahnte. Ich hatte gedacht, wenn sie zugeben würde, dass sie über die Wölfe Bescheid wusste, könnte ich damit abschließen, aber alles, was ich fühlte, war eine bange Anspannung. Da hatten wir so lange nach Jack gesucht und Olivia hatte die ganze Zeit gewusst, wo er war. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.
Auf dem Parkplatz sah ich den Bronco langsam in meine Richtung rollen. Sam hinter dem Lenkrad zu sehen, erfüllte mich mit einer Ruhe, die mir die Unterhaltung mit Olivia nicht verschafft hatte. Verrückt, wie glücklich mich der Anblick meines eigenen Autos machen konnte.
Sam lehnte sich herüber, um die Beifahrertür für mich zu entriegeln. Er sah auch noch ein bisschen müde aus. Er reichte mir einen Styroporbecher mit dampfendem Kaffee. »Dein Handy hat vor ein paar Minuten geklingelt.«
»Oh, toll.« Ich stieg in den Bronco und nahm dankbar den Kaffee entgegen. »Ich fühle mich wie ein Zombie heute. Ich bin total auf
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