Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
Brillen, die ihnen an silbernen Ketten um den Hals hingen. Die raue Stimme des Predigers und die Geschichten, die er erzählte, von einem Mann, der von Ort zu Ort zog, Menschen berührte und sie heilte. Der von Vergebung zu ihnen sprach und von Nachsicht. Der sie mit Brotkrumen speiste und ihnen das Paradies versprach.
Und dann nagelten sie ihn ans Kreuz und lachten ihn aus.
Sie bogen von der Landstraße auf den Highway, und er dachte an diese Geschichten und an die Frau im burgunderfarbenen Kleid, und an das Haus, das sie gerade verlassen hatten, wo sie die Sachen mitgenommen hatten, die ihnen nicht gehörten. Er dachte an den Mann, der die Notiz hinterlassen hatte, und fragte sich, warum er gerade diese Worte gewählt hatte. Er schaute in den Himmel, stellte sich vor, er wäre blau und klar und dass die Worte auf dem Zettel in großen schwungvollen, weißen Buchstaben dort geschrieben standen.
An alle, die es angeht – er ist nicht tot, er ist auferstanden.
9
Als sie bei der Kapelle ankamen, war er auf Habanas Rücken zusammengesunken, der Kissenbezug mit seinen Habseligkeiten schleifte über den Boden, und sein Kopf ruhte auf ihrer Mähne. Er fiel beinahe vom Pferd, landete auf den Knien, und sein Hund leckte ihm über die Stirn. Er hob die Hand und streichelte ihn am Kopf, stand auf und ging in die kleine Kirche. Den Bettbezug zerrte er hinter sich her. Die Nacht brach an, der Regen fiel wieder dichter. Er setzte sich in die hintere Bankreihe, dorthin, wo er die letzte Nacht verbracht hatte. Er holte eine Wasserflasche aus dem Sack und das Aspirin, nahm ein paar davon, machte eine Dose mit Wiener Würstchen auf und fragte sich, ob er zitterte, weil ihm kalt war, oder weil er Fieber hatte oder womöglich beides. Wie auch immer, er aß die Hälfte von den daumengroßen Würstchen und gab die andere Hälfte dem Hund, dann warf er die Dose auf den Boden. Habana trappelte durch die Tür herein.
Leg dich hin und ruh dich aus, verlangte sein Körper.
Steh auf und such sie, sagte sein Kopf. Finde sie. Diese Leute, die deinen Jeep geklaut haben, in dein Haus eingedrungen sind und das wenige mitgenommen haben, das dir von Elisa geblieben ist. Finde sie und zahl es ihnen doppelt heim. Vergiss dein Fieber und die Schmerzen und deine Schwäche, steh auf und geh los. Wenn sie noch nicht fort sind, dann dauert es nicht mehr lange. Du hast nicht mehr viel Zeit.
Leg dich hin, und ruh dich aus, verlangte sein Körper erneut, und er streckte sich auf der Kirchenbank aus.
Nur eine Minute.
Er schloss die Augen. Der Hund schob die leere Dose über den Fußboden, als hoffte er, noch etwas zu fressen darin zu finden. Habana scharrte mit den Hufen, lief umher, pisste.
Mir ist heiß, dachte er. Mir ist furchtbar heiß. Früher hatte er einen Fieberanfall immer als lindernd und sanft empfunden, als eine Gelegenheit, ins Bett zu gehen und ein paar Tage auszuruhen, bis es vorbei war. Aber das war ein anderes Fieber gewesen, nicht so heftig und quälend wie jetzt. Ihm war so heiß, dass er glaubte, trotz der Kälte um ihn herum zu verbrennen.
Steh auf. Du hast nicht ewig Zeit. Steh auf.
Nur noch eine Minute, dachte er und spürte, wie er allmählich abdriftete. Er lag ruhig da und dämmerte weg. Vor seinem geistigen Auge tauchten eigenartige Bilder auf, die irgendwo in den Tiefen seines Selbst herumgeisterten, an der Grenze zum Unbewussten. Ein Sperrfeuer von Bildern, die teilweise aus der Zeit vor den Stürmen stammten, teilweise aus der Zeit der Verwüstung bis hin zum heutigen Tag. Gesichter von Menschen, die er kaum noch identifizieren konnte, Erinnerungen an Einkaufslisten oder gewonnene Glücksspiele, Stimmen von Menschen, die ihm wehgetan hatten, und dann verschwand das alles, und es wurde schwarz, und er fiel mit zuckenden Augenlidern in einen tiefen Schlaf.
Stunden später wachte er auf. Er setzte sich hin, rieb sich die Arme und erschauerte. Er holte die Taschenlampe aus dem Kissenbezug, knipste sie an und schaute sich um. Der Hund lag am Ende der Bank, Habana war nirgends zu sehen. Der Wind blies durch die Kirche, und die welken Blätter und trockenen Zweige, die über die Kanzel gefallen waren, raschelten. Ein Waschbär kroch über den Stamm des umgestürzten Baums, hielt inne, schaute ihn an, kletterte herab und verließ die Kirche.
Er ging nach draußen und suchte die Umgebung mit der Lampe ab. Habana stand auf dem Feld jenseits der Straße. Er rief nach ihr. Sie sah ihn und kam heran, während er sich nach etwas
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