Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
Umschlag mit den Briefen und Dokumenten.
Er setzte sich hin und lehnte sich zur Seite. Er schob die Hand in seine Gesäßtasche, um sich zu vergewissern, dass ihr Bild noch da war. Er griff nach ihrem Schmuck, machte den Schuhkarton auf und legte ihn mit dem Foto und allem anderen hinein und schloss den Deckel wieder. Dann legte er sich hin und schaute nach draußen, wo gerade die Sonne schien.
Die Frauen versammelten sich in der Mitte der Wohnwagenburg und sprachen über Wunder.
»Schaut euch das an«, sagte eine von ihnen.
»Ich schwöre bei Gott, das sieht beinahe wie gefälscht aus«, sagte eine andere.
Eine Gruppe von Frauen schaute fasziniert in den kristallblauen Himmel, als wäre dies der Tag der Schöpfung. Der Sturm war weitergezogen und wurde von einer klaren Luft abgelöst, die man lange nicht mehr gesehen hatte. Keine Wolken. Nur die Sonne stand am nachmittäglichen Himmel. Ein leichter Wind wehte.
Das andere Wunder wurde von einer zur anderen gereicht. Er war gewaschen worden und schlief, eingewickelt in eine Decke, und keine der Frauen konnte glauben, dass dieses Kind wirklich lebte.
21
Cohen stand auf dem Feld. Ein dünnes, rosafarbenes Band lief jetzt am späten Nachmittag über den Horizont. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt, die Messerklinge war blank poliert und steckte wieder in der Scheide. Sein ganzes Gewicht lag auf seinem gesunden Bein. Aggie hatte nichts zu ihm gesagt, als er aus dem Wohnwagen gehumpelt war, vorbei an der Asche des heruntergebrannten Feuers, raus aufs Feld, aber er hatte gespürt, wie sein Blick ihm folgte. Hatte gespürt, wie er sich über die Fähigkeiten des neuen Mannes gefreut hatte. Er spürte die Kraft des Unbekannten.
Er fragte sich, was wohl passierte, wenn er jetzt einfach weiterging. Wie weit würde er kommen, bevor die Flinte losging, sein Körper an irgendeiner Stelle zu schmerzen begann und er wie ein angeschossenes Tier am Boden liegen blieb? Er war ein paar hundert Meter von der Baumreihe entfernt, das Gras war hoch. Natürlich konnte er sich hinfallen lassen und weiterkriechen, nur leider hatte er ein verletztes Bein, und er wollte nicht gejagt und getötet werden, während er auf dem Boden herumkroch. Er wollte lieber im Stehen sterben. Vögel flogen über ihn hinweg, und kleine Tiere, die die Ruhe zwischen den Stürmen nutzten, um etwas zu fressen zu finden, bewegten sich durchs Gras. Er schaute Richtung Süden und fragte sich, wie das Wasser an diesem ruhigen Morgen wohl aussah. Er stellte sich vor, wie er an den Strand schlich, ganz vorsichtig, als müsste er darauf achten, die Naturgewalten nicht zu wecken. Die Leere des Ozeans, die endlose Wasserfläche und der weite Himmel trafen sich irgendwo am fernen Horizont. Er erinnerte sich, wie er als Junge einmal am Strand gestanden und ziellos ins Leere geblickt hatte. Stellte sich die Männer vor, die vor hundert Jahren über diese unendliche Weite geblickt hatten und seiner Unberechenbarkeit die Stirn boten, während sie ihre Schiffe beluden, sich von ihren Familien verabschiedeten, die Segel setzten und davonglitten. Männer, die die Liebe zu ihrem Land überwanden, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie fuhren fort, ließen die heimatlichen Gefilde hinter sich, sahen zu, wie sie kleiner und kleiner wurden und schließlich in der Ferne verschwanden. Und vor ihnen im Ungewissen lagen irgendwelche vagen Neuentdeckungen. Sie dachten an Seeungeheuer, die aus der Tiefe aufstiegen und sie verschlangen oder mit ihrem Feueratem verbrannten, die sie umschlangen und zerquetschten, bis das Blut aus ihnen spritzte. Oder an tiefschwarze Wirbel, die ganze Schiffsflotten vernichten konnten, indem sie sie nach unten in ein unendlich tiefes dunkles Grab saugten. Oder daran, dass die Welt vielleicht irgendwo ganz einfach aufhörte. Dass man bis zum Rand segeln und dann hinabfallen konnte, aber wohin wohl?
Cohen hatte sich diese Gedankenspiele als Junge immer wieder durch den Kopf gehen lassen, während er bis zur Hüfte im Meer stand. Nun spulte er diese Gedanken als erwachsener Mann ab, schaute in den grenzenlosen Himmel, sinnierte über diese Männer nach und fragte sich, was sie sich wohl erhofft hatten, und ob sie enttäuscht worden waren, zumindest ein bisschen, als sie herausfanden, dass ihre wildesten Vorstellungen nicht wahr sein konnten. Dass es auf der anderen Seite nur Fels und Sand gab, und beides nicht sehr verschieden war von dem Fels und Sand, den sie hinter sich gelassen hatten. Dass die
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