Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
raus?«
Cohen rauchte und dachte darüber nach. »Klingt ziemlich biblisch. Ich schätze, davon habt ihr alle erst mal genug.«
»Ja, denk ich auch.«
»Ich bin auch nicht mehr wert als alle anderen hier.«
Sie ließ die Arme herabfallen. »Das wohl eher nicht.«
Sie schaute zu den anderen, die jetzt die Essensvorräte plünderten, die Getränkevorräte und die Kleider. Cohen sah sie an und bemerkte, wie jung sie war. Sie ist halb so alt wie ich, dachte er. Höchstens.
Aggie schrie etwas, aber Cohen konnte es nicht verstehen. Dann rief er ziemlich deutlich nach Ava. Sie ging gerade über das Gelände, blieb stehen und schaute in seine Richtung. Wieder rief er nach ihr. Ava schaute sich um und sah Cohen und Mariposa. Sie schüttelte den Kopf und ging zu ihrem Wohnwagen.
Mariposa sagte: »Irgendwo wartet jemand auf mich.« Sie schaute ihn an. Nun sah er nicht mehr ihre Jugend, sondern bemerkte diesen Ausdruck in ihren dunklen Augen, in ihren Mundwinkeln. Da war etwas, das ihre Jugendlichkeit relativierte, etwas jenseits der Unschuld, die sie schuldlos verloren hatte.
»Ich habe Verwandte irgendwo«, fuhr sie fort.
Cohen nickte.
»So wie du«, fügte sie hinzu.
Er spürte, dass er jetzt gern etwas gesagt hätte, aber er wusste nicht, was. Er wusste nicht, wer sie war. Und er wusste nicht, ob er das herausfinden wollte. Er wollte sich nicht kümmern müssen. Er wollte nicht mit ihr über ihr Leben reden oder andere Dinge, die ihr vielleicht wichtig waren. Am liebsten wäre er einfach weggegangen, aber das ging nicht, weil Brisco jetzt aus dem Trailer kam, mit einem Arm voller Coladosen. Eine fiel herunter, und er kickte sie zu Cohen und Mariposa. Dann kam er zu ihnen und reichte ihnen je eine Dose.
»Davon gibt es total viel«, sagte er.
Cohen schaute zu dem Jungen hinunter und fragte: »Wie alt bist du?«
Der Junge stellte die anderen Dosen auf den Boden, hob den Arm und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Dann zuckte er mit den Schultern.
»Du weißt nicht, wie alt du bist?«
»Ich weiß es.«
»Okay.« Er wartete, dass der Junge noch etwas sagte, aber das tat er nicht. Immerhin musste er sich keine Gedanken machen, wie er von Mariposa wegkam, denn sie drehte sich um und ging. Brisco lief zum Trailer zurück. Die Frauen hatten aufgehört zu plündern und verzogen sich aus dem Regen.
Donnergrollen war zu hören, im Westen flammten Blitze auf. Cohen schaute nach unten und sah zu, wie der Regen auf den rötlichen Lehmboden platschte.
Dann ging er auf Mariposas Wohnwagen zu. Ein Lichtschein drang durch ein Hemd oder ein Tuch, das vor dem Fenster hing. Unter der Tür ein Betonblock. Er trat auf den Block und blieb vor der Tür stehen, so dicht, dass er sie beinahe mit der Nase berührte. Er hörte, wie sie sich drinnen bewegte. Er hob die Hand, berührte mit seinen feuchten Fingerspitzen die nasse Tür und fragte sich, was sie da drin wohl machte. Er fragte sich, warum sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war, ohne etwas zu sagen, ohne Forderung. Sie war einfach nur ganz leise zu ihm geschlichen und hatte sich neben ihn gelegt. Er wunderte sich, dass er gleich gewusst hatte, dass sie es war. Wie konnte er sich, als er erwachte, sicher sein, dass der Körper, den er neben sich gespürt hatte, der von dem Mädchen mit den schwarzen Haaren war? Er wunderte sich, dass er sich nicht erschreckt hatte, und fragte sich, warum er nicht hastig von ihr weggerückt war. Wieso hatte es sich so angefühlt, und wie würde es sich beim nächsten Mal anfühlen? Wäre es das Gleiche, dieses Gefühl von Ruhe und Vertrauen, oder würden es diesmal Ekel und Schuld sein und ihn dazu bringen, fortzulaufen? Ihre Bewegungen im Wohnwagen hörten auf, und er fragte sich, was sie jetzt wohl machte. Er fragte sich, was sie tat. Hielt den Kopf nach vorn gebeugt und legte die Stirn gegen die Tür.
»Du kannst reinkommen«, sagte sie.
Er hob den Kopf.
»Es ist schon okay«, sagte sie.
Er nahm die Hand von der Tür und bewegte sie langsam Richtung Türknauf. Ein weiterer Blitz flammte auf, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er seinen Schatten auf der Tür.
Er ließ den Türgriff los, stieg vom Betonblock herunter und ging weg.
Er wandte sich ab, lief zu Aggies Pick-up und nahm eine Schaufel von der Ladefläche. Dann ging er den Weg entlang zu der Stelle, wo der Hund lag. Der Regen wurde heftiger, und es donnerte in immer kürzeren Abständen. Er konnte kaum etwas sehen und stolperte über den Hund, als er ihn
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