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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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konnte. Er sog den Regen ein, horchte auf den Donner und spürte den Schmerz in seinen gefesselten Armen. Was hätte er ihnen denn noch geben können? Es ist schon immer so gewesen, das Gleiche haben sie Ihm angetan. Er gab ihnen alles, was sie sich nur vorstellen konnten, alles, was sie brauchten. Er zeigte ihnen den Weg in die Herrlichkeit Gottes, und sie quälten Ihn , spuckten auf Ihn und sahen zu, wie Er blutete und blutete und blutete. Und mir ergeht es genau wie Ihm , dabei habe ich sie beschützt, sie aufgenommen, ihnen zu essen gegeben. Ich habe sie durch den Sturm geführt, ich war ihr wachsamer Hirte, sie waren meine Herde, und nun kann ich so laut schreien, wie ich will, sie werden mich hören, aber keiner wird kommen. Niemand. So ist es immer gewesen.
    Er fragte sich, wie das alles wohl enden würde, erinnerte sich an die Dinge, die er gewonnen und verloren hatte, und es kam ihm vor, als wären seine Gedanken die Gedanken eines anderen Menschen mit einem anderen Leben.
    Seit dem Moment, als Charlie die Gerüchte über das vergrabene Geld gehört hatte, verlor er das Interesse an seinem Truck und seinen Geschäften südlich der Linie und den kleinen Beträgen, die er mit dem Verkauf bescheidener Produkte einnahm. Zunächst hatte er geglaubt, es sei so ähnlich wie mit den Gerüchten, die jahrelang an der Golfküste verbreitet wurden. Die Voraussagen, dass die Stürme nicht aufhören, sondern noch viel grauenhafter würden. Die Voraussagen, dass es noch viele Jahre anhielt. Die Voraussagen, dass die Regierung irgendeine beschissene Linie zog, die man nicht übertreten durfte. All das kam ihm damals völlig weit hergeholt vor. Und doch war es die Wahrheit gewesen. Die Gerüchte von dem vergrabenen Geld kamen Charlie genauso vor wie diese märchenhaften Beschwörungen, die sich als wahr erwiesen hatten. Es war so schräg, dass es einfach stimmen musste, und er wollte sich nicht von einer Horde Dorftrotteln in Pick-ups mit Schaufeln und Spitzhacken und Bierflaschen in Kühlboxen die Butter vom Brot nehmen lassen.
    Zwei Jahre lang hatte er jeden befragt, den er kannte, um herauszufinden, was genau diese Gerüchte besagten, woher sie kamen und wer sie aufgebracht hatte. Kürzlich hatte ein ehemaliger Casino-Mitarbeiter im Fernsehen zugegeben, dass er befohlen hatte, ganze Lieferwagen mit Geld zu vergraben. Nur hatte er nicht weit genug in die Zukunft gedacht, denn damals hatte niemand ernsthaft geglaubt, dass die Stürme so lange anhielten und die Linie so lange bestehen würde. Aber in dem Interview mit dem ehemaligen Casino-Mitarbeiter war dessen Gesicht geschwärzt und seine Stimme verfremdet gewesen, weshalb er nicht herausfinden konnte, in welchem Casino er gearbeitet hatte, ob es in Bay St. Louis oder Biloxi oder Gulfport oder sonst wo gestanden hatte. Er wusste nur, dass das Geld irgendwo dort unten auf dem Grundstück eines Casinos vergraben lag. Wie viel, war nicht ganz klar, aber es mussten Millionen sein, mindestens zehn oder fünfzehn. Der Casinotyp hatte vergessen, mitzuzählen, als sie es in den Laster luden.
    Das waren die Teile des Puzzles, die Charlie anhand von Telefonanrufen zusammenfügen konnte, und anhand von Informationen aus zweiter Hand, die sich in Windeseile an der Südostküste verbreiteten. Das Trugbild von den vergrabenen Schätzen geisterte durch die Köpfe all jener, die glaubten, sie hätten die Mittel und Fähigkeiten, dort hinunter zu gehen und zu suchen. Und fast alle diese Träumer kamen ohne die nötige Ausrüstung und waren überhaupt nicht auf die Risiken vorbereitet, denen sie sich aussetzten.
    Charlie hingegen war sehr wohl vorbereitet. Er hatte die nötigen Mittel. Er kannte die Straßen. Er hatte genug Kraft. Er hatte genug Mut.
    Er war nicht wie die anderen, die so viel verloren hatten. Er hatte keine Frau und keine Kinder gehabt. Seine Freunde waren entweder tot oder evakuiert oder hatten das erstbeste Angebot der Regierung angenommen und sich für ihr verlorenes Land ausbezahlen lassen, um sich in eine neue Umgebung hineinfinden zu können. Der allmähliche Zusammenbruch der Ordnung hatte seine Talente als Händler und Schacherer angestachelt, und es gefiel ihm, nun wieder in einer natürlichen Welt leben zu müssen, in der es keinen Kredit gab. Hier existierte keine Ratenzahlung. Hier ging es nur darum, dass man etwas hatte, das ein anderer so dringend benötigte, dass er bereit war, dafür zu zahlen. Es war ein System, das ihm behagte. Ein System, in dem er seine

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