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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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Wände waren mit Schimmel überzogen, von der Decke tropfte hier und da Wasser, aber es war kein Loch zu sehen.
    Evan schaute sich um und fand ein paar Klappstühle und eine kurze Bank hinter dem Tresen. Die Frauen und Brisco setzten sich hin. Evan und Cohen traten vor die verschlossene Tür. Cohen richtete die Lampe auf das Schloss.
    »Die Tür sieht nicht sehr stabil aus«, stellte Evan fest. »Wenn man wirklich rein will.«
    Er ließ den Lichtkegel über die Tür gleiten. In Hüfthöhe waren Fußabdrücke auszumachen, außerdem überall Beulen. »Vielleicht ist sie ja stabiler, als sie aussieht«, sagte Cohen.
    »Wahrscheinlich ist nichts dahinter«, sage Evan.
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Willst du sie aufmachen?«
    Cohen zuckte mit den Schultern.
    Er wandte sich um und ging zur Theke. Evan folgte ihm. Sie setzten sich darauf. Cohen leuchtete weiter den Raum ab und schaltete die Lampe dann aus. Nadine sagte, jetzt bin ich mal dran, und Kris reichte ihr das Baby.
    Alle saßen schweigend da. Es regnete, und Windböen wehten herein.
    Und wie sie da in der Dunkelheit dicht zusammen saßen, fiel alles von ihnen ab. Der Sturm umfing sie und ließ keine anderen Laute zu. Es war ein einziges anhaltendes Dröhnen. Mariposa sank in sich zusammen, Brisco legte sich auf ihren Schoß. Nadine hielt das Baby fest und senkte den Kopf auf das kleine Bündel in ihren Armen. Kris streckte die Beine aus und legte die Hände auf ihren Bauch. Evan starrte Brisco an. Cohen starrte seine Hände an. Sie waren nichts weiter als stille, müde Silhouetten.
    Sie waren so klein angesichts der Übermacht der Elemente. Gegenüber der gnadenlosen Naturgewalt. Kleine, erschöpfte Wesen, deren Existenz so fremdartig und ungewöhnlich geworden war, dass kaum denkbar schien, dass sie sich woanders aufhalten konnten als in diesem verlassenen Gebäude in diesem verlassenen Land in einer sturmgepeitschten Nacht und einer sturmgepeitschten Welt. Sie saßen regungslos da und verströmten nichts als Erschöpfung, vielleicht sogar Hoffnungslosigkeit. Vielleicht sogar Hilflosigkeit. Der Tag hatte mit dem Gedanken begonnen, die rettende Linie zu erreichen, aber diese Idee war nun in einem Sturzbach der Verzweiflung untergegangen.
    Cohen rutschte von der Theke und verschränkte die Arme. Er ging ein Stück weit in die Mitte des Raums und blieb zwischen den umgekippten Regalen stehen. Er horchte. Schaute nach draußen in die Dunkelheit. Überall tropfte Wasser. Er dachte an das Baby und was wohl aus ihm werden würde. Würde er überhaupt ein Leben haben? Würde er je an einen anderen Ort kommen? Einen normalen Ort, wo es hell war, wo man das Essen in Kühlschränken aufbewahrte, wo es weiche Betten gab, und wo manchmal die Sonne hervorkam, und wo die Menschen in Autos herumfuhren und Jobs hatten. Wo man in einen Laden gehen und etwas kaufen konnte, wenn man es brauchte, wo Donnerschläge einen nicht in Angst versetzten, sondern nur bedeuteten, dass die Rosen im Vorgarten Wasser bekamen. Würde er es bis zu einem anderen Ort schaffen? Und wenn sie ihn dorthin brachten, wer würde dann seine Windeln wechseln und ihm Lesen und Schreiben beibringen? Würde er Freunde haben und in die Schule gehen, und würde er jemanden haben, den er Mama und Papa nennen konnte? Würde er jemals Baseballspielen lernen, mit dem Fahrrad fahren und nicht hungern müssen? Würde er jemals erfahren, wie er geboren wurde und wo und wer sein Vater war und was für ein Wunder es war, dass er überlebt hatte? Und würde er jemals die Geschichte von einer Gruppe von Pechvögeln hören, denen es irgendwie gelungen war, ihn über die Linie zu schaffen? Er hatte kaum eine Chance. Sie alle hatten kaum eine Chance, egal, in welche Richtung sie sich bewegten.
    Cohen schaute sich seine Hände an und dachte an das Messer in seiner Hand und an die Mutter des Babys und ihre Schreie und ihr Betteln und ihr Blut. In dieser dunkelsten aller Nächte ergoss sich ihr Blut über seine Gedanken und tränkte sie karmesinrot. Und er sah dieses Rot an den Wänden und auf dem Fußboden, es tropfte von der Decke, sammelte sich in Pfützen auf dem Boden, wurde durch die vernagelten Fenster hereingeweht, und er spürte, wie es von seinem Bart tropfte. Er sah Karmesinrot und hörte sie betteln, jemand solle etwas tun, und dann wurde ihre Stimme zu seiner Stimme, und er hörte sich selbst weinen, während er auf der Straße saß, mit Elisas Kopf in seiner Hand, und er schrie, jemand solle etwas tun, aber da war

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