Nach der Hölle links (German Edition)
verschluckt. Ein anderer hatte ihm Wasser gereicht und ihm freundschaftlich den Rücken geklopft. Ein Fremder hätte der Situation keinerlei Bedeutung beigemessen.
Sascha hingegen machte sich nichts vor. Sie flohen voreinander. Er, indem er wie ein verschrecktes Kaninchen verharrte, statt seinen inneren Schweinehund zu überwinden und seinen Ex-Freund zu küssen. Andreas, indem er sich auf die lebenswichtige Frage konzentrierte, ob Sascha eine Schokoladensorte von der nächsten unterscheiden konnte. Die Erkenntnis, dass sie beide gleichermaßen Feiglinge waren, hatte etwas Tröstliches.
Silberpapier knisterte. Sascha fragte sich, wie viel Schokolade er essen musste, bevor sie Frieden mit diesem Abend schließen konnten. Es brauchte eine Brücke, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollten.
Er räusperte sich. »Wie geht es deiner Mutter eigentlich?«
»Und? Was gibt es Neues?«
Die Fragen trafen sich zwischen ihnen und prallten aneinander ab. Sie grinsten verkrampft.
»Du zuerst«, nickte Sascha einladend. Ihm war egal, worüber sie sprachen. Nur schweigen wollte er nicht. Stille war in dieser Situation gefährlich. Sie führte dazu, ohne Worte zu kommunizieren. Und so sehr er sich danach sehnte, glaubte er nicht, dass es eine gute Idee wäre, einen weiteren ungeklärten Vorfall körperlicher Leidenschaft auf ihr gemeinsames Konto zu buchen.
Andreas’ Lächeln war zittrig, als er ruckartig die Schultern hob. »Nicht gut. Sie wird in ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen und geht direkt in die Kur. Es hat keinen Sinn mehr, sich dagegen zu sträuben.«
Sascha war überrascht – und dankbar, dass er sich auf etwas anderes als physische Sehnsüchte konzentrieren konnte. »Sie liegt immer noch im Krankenhaus?«, fragte er ungläubig. »Und das in einer Welt, in der man Frischoperierte so schnell wie möglich nach Hause schickt, damit sie keine Betten blockieren?«
»Die Wunder der Privatversicherung«, stürzte Andreas sich redselig auf das unverfängliche Thema. »Aber ehrlich, es geht ihr nicht gut. Ihre Entzündungswerte sind bis heute nicht in Ordnung. Sie hat starke Schmerzen. Bekommt immer wieder Fieber. Sie … sie scheint zusammenzubrechen. Als würde der Körper es ausnutzen, dass er endlich eine Auszeit bekommt. Vor einer Woche sah es aus, als hätte sie sich zu allem Übel eine Lungenentzündung eingefangen. Aber es ist bei einer deftigen Grippe geblieben.«
»Da soll einer sagen, dass man im Krankenhaus gesund wird«, murmelte Sascha. Gott sei Dank, es funktionierte. Sie redeten.
»Das hat mein Vater auch gesagt. Wobei der exakte Kommentar lautete: Verdammter Seuchenherd. Wozu schiebe ich denen mein Geld in den Arsch, wenn meine Frau hinterher kränker ist als vorher?«
Sascha, der sich bei Richard von Winterfeld nie sicher war, ob es ihm um das Geld oder um die Menschen ging, wiegte den Kopf und musste zugeben: »Kann ich verstehen. Und deine Mutter geht in die Kur? Freiwillig?«
Mit einem humorlosen Auflachen lehnte Andreas den Kopf an die Rückenlehne. »Nein, so würde ich das nicht nennen. Sie hatte ein paar Mal Besuch vom Krankenhauspsychologen, der ihr ins Gewissen geredet hat. Aber wenn mein Großvater sich nicht reaktiviert hätte, würde sie nicht gehen. Das kannst du mir glauben. So hat sie sich auf ein paar Wochen Ruhe eingelassen, inklusive psychologischer Betreuung. Scheiße, ich möchte gar nicht wissen, wie viel Dreck hochgespült wird, sollte sie einer Therapie zustimmen.«
Darauf wusste Sascha nichts zu sagen. Anders ausgedrückt: Er hatte viel zu sagen, war sich jedoch nicht sicher, ob Andreas es hören wollte.
Dass Margarete von Winterfeld professionelle Hilfe brauchte, war nicht zu übersehen. Keine Mutter, die mit beiden Füßen fest im Leben stand, ließ zu, dass ihr Kind dermaßen unter die Räder kam, wie es bei Andreas geschehen war. Es war nicht gesagt, dass es für ihren Sohn leichter werden würde, wenn sich plötzlich mehrere Familienmitglieder in Therapie befanden und geschult wurden, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und nach außen zu vertreten. Sascha konnte nur hoffen, dass Andreas stark genug war, um sich gegen eventuelle egozentrische Anwandlungen seiner Mutter abzuschirmen.
Erneut drohte sich Stille über sie zu legen. Während Sascha überlegte, wie er die Anspannung zwischen ihnen zerschneiden könnte, stieg ein heißes Brennen in seinem Hals auf. Sein Magen gab ihm erneut zu verstehen, wie wenig er von der Kombination aus zehrender Ungewissheit,
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