Nach der Hölle links (German Edition)
auffangen zu lassen. Es wäre nicht fair, ihn mit den eigenen Problemen zu belästigen.
Der Körper neben ihm zuckte unmerklich zusammen, wurde steif. Andreas presste die Lippen aufeinander: »Ich möchte schon, aber …«
Er war nicht bereit, in einem fremden Haus zu übernachten. Sie hatten darüber gesprochen, und der Tag, an dem es geschah, würde kommen, aber er war nicht soweit. Leider.
»Ist schon gut«, nickte Sascha bemüht leichtherzig. »Es läuft nicht weg. Morgen komme ich zu dir, okay?« Er küsste Andreas’ Ohr. »Wir sperren alles ab und lassen niemandem mehr herein. Gegen drei Uhr? Was meinst du?«
»Da werde ich wohl noch nicht zurück sein, fürchte ich. Teilhaber hin oder her, ich werde Schwierigkeiten haben, ins Büro meines Vaters zu kommen.«
Überrascht richtete Sascha sich halb auf und starrte Andreas an. »Dein Vater? Du willst mir doch nicht sagen, dass du morgen zu deinem Vater gehen willst?«
»Doch. Sicher«, schnaubte es ihm ungehalten entgegen. »Was bleibt mir übrig? Meine Mutter ist so von der Rolle, dass ich nicht darauf wetten würde, dass sie dicht hält. Und es ist mein Job, es ihm zu sagen. Besser, ich bringe es schnell hinter mich. Dann kann ich mich eingraben und darauf hoffen, dass ich sie nie wiedersehe.«
Sascha hatte Mühe, den Mund zu schließen. Er hatte nicht im Ansatz damit gerechnet, dass Andreas sein Coming Out so schnell durchziehen würde. Es mochte klug sein, das Pflaster mit Gewalt von der Haut zu reißen, aber auch sehr schmerzhaft. Andererseits staunte er über Andreas’ Mut und Kampfgeist. Vielleicht wurde man mutig und kämpferisch, wenn man jeden Tag auszog, um seine Ängste zu bekriegen. Ob es leichter war, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen als Todesangst im Supermarkt zu bekämpfen?
»Du bist unglaublich«, rutschte es Sascha heraus.
»Nö, bin ich nicht. Ich will nur nicht nächtelang wach im Bett liegen und Angst haben, dass mein Vater mich anruft, weil meine Mutter gepetzt hat. Wenn ich es aufschiebe, wird es nur schlimmer, schätze ich.«
Dem stimmte Sascha zu, aber das änderte nichts daran, dass er Andreas bewunderte. Er nahm sich vor, ihn am Wochenende zu entschädigen. Er würde sich etwas einfallen lassen.
Sie gönnten sich zwei gemütliche Stunden auf dem Bett, bevor Andreas sich verabschiedete. Nachdem er fort war, stand Sascha lange am Fenster und hing seinen Gedanken nach. Ihn fröstelte innerlich. Der Pullover, den er sich überzog, half nicht.
Bis nach Mitternacht wanderte er in seinem Zimmer auf und ab. Er dachte an Katja, an Tanja, die ihn bei sich aufgenommen hatte, an seinen Vater und an Andreas. Immer wieder an Andreas, der sich in den letzten Wochen mit ungeahnter Energie durch das Leben gebissen hatte.
Woher kam das? Machte Sascha ihn stark? Half er ihm, weil er da war?
Der Gedanke gefiel Sascha – und forderte ihn heraus.
Es wurde Zeit, dass er seinen eigenen Kampf zu Ende brachte. Ein letztes Mal. Er würde ein letztes Mal mit ihr sprechen.
Kapitel 43
Die Tristesse des wuchtigen Komplexes wurde auch von der freundlich grinsenden Pappmaschee-Kuh auf dem Flachdach nicht aufgelockert. Die Zentrale des Winterfeld-Konzerns war alt; hochgezogen in den Fünfzigerjahren, in denen schnelles Bauen und Effektivität wichtiger waren als optische Behaglichkeit. Weder die über mehrere Stockwerke gespannten Plakate am Büroturm noch die spärliche Bepflanzung vor der Produktentwicklung konnten darüber hinwegtäuschen, dass die Anlage ein Hort eiskalter Strebsamkeit war.
Andreas empfand Hass für die Gebäude, die ihm kleiner schienen als in seiner Kindheit. Seine Empfindungen brodelten hinter den Schläfen und wollten Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit erzeugen. Ein wohlvertrautes Beklemmungsgefühl drückte auf seine Brust und ließ ihn auf der anderen Straßenseite verharren.
Er hatte sich ein Taxi gegönnt. Der Fahrer war verwundert gewesen, als er gebeten wurde, rund hundert Meter vor der ursprünglich angegebenen Adresse zu halten. Andreas hatte Luft gebraucht. Nicht, weil er Angst hatte – die hatte er sowieso –, sondern weil sein Zorn ihn zu verzehren drohte.
Diese Entität, der Konzern, der ihn zu einem reichen Mann machte, widerte ihn an. Er hatte ihm alles gestohlen. All das, wovon er nicht einmal geahnt hatte, dass es zu einem normalen Familienleben gehörte. Therapeuten hatten ihm erklären müssen, wie Eltern im Idealfall mit ihren Kindern umgingen. Ärzte hatten ihm deutlich gemacht, dass er
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