Nach der Hölle links (German Edition)
trat Tanja näher und bekam Gelegenheit, einen Blick auf dessen Gesicht zu erhaschen.
»Holy shit, wie siehst du denn aus?«, fluchte sie. »Ist dir schlecht?«
Ruckartige Kopfbewegungen konnten in jede Richtung gedeutet werden.
»Hast du heute schon was gegessen?«, bohrte Tanja weiter. Als Andreas verneinte, nahm sie ihn behutsam am Arm und führte ihn Saschas finsterem Blick zum Trotz in die Küche. »Schlechte Idee. Elternbesuche macht man nicht auf nüchternen Magen. Ich kenne das. Das Problem ist, wenn man zu viel isst, wird einem kotzübel. Aber wenn man gar nichts isst, saugen sie einem alle Energie aus. Vampire sind ein Dreck dagegen. Komm, versuch zwei Gabeln Lasagne. Mal sehen, was dein Bauch dazu sagt. Cola? Klar, Cola. Ist gut für den Kreislauf. Sascha, steh nicht dumm herum. Hol Gläser. Wir versuchen es heute mal in zivilisiert. Wir haben schließlich Besuch. Aus der Flasche trinken können wir, wenn wir allein sind. So, wo ist der …?«
Tanjas Geplapper ging endlos weiter. Sie tat keinen Handgriff, ohne die jungen Männer in einen Teppich aus Worten zu weben. Der Backofen wurde ausgeschaltet, Teller klapperten, eine Flasche zischte beim Öffnen. Sascha musste erst seinen Ärger über die Einmischung verwinden, bevor er bemerkte, dass das Verhalten seiner Tante nicht ohne Wirkung blieb.
Tanja, die sich normalerweise in der Rolle der chaotischen Musikerin am besten gefiel, bündelte Nestbautrieb mit Mutterinstinkten und schien es darauf anzulegen, Andreas zu zeigen, was Familienleben bedeutete. Sie ließ ihn Platz nehmen, bot ihm ein Dutzend Getränke an, wollte ihm einen Cognac oder eine Magentablette holen.
Sascha mochte sich nicht ausmalen, wie sie sich verhalten hätte, wenn sie gewusst hätte, weshalb Andreas bei seiner Mutter gewesen war. Auszeit im Kinderzimmer? Lolli zum Nachtisch? Er unterdrückte ein Grinsen und setzte sich neben Andreas an den Tisch. Während Tanja mit dem Backofen kämpfte, flüsterte er eilig: »Wenn du verschwinden willst, gebe ich dir Rückendeckung. Du musst dich hier nicht festnageln lassen.«
Andreas drückte unter dem Tisch sein Bein und wisperte zurück: »Schon okay. Ich glaube, sie hat recht. Essen ist vielleicht ganz gut.«
Er klang müde. Auf eine »Ich wünsche mir gerade nichts sehnlicher, als mich auf die Couch zu legen, den Kopf auf dem Schoß meines Freunds und meinen Hund auf den Füßen«-Weise. Angst besaß ein anderes Timbre.
»Sicher?«, brachte Sascha heraus und stutzte, als Tanja die größte Auflaufform zum Vorschein brachte, die er je gesehen hatte. Der Geruch italienischer Gewürze vermischte sich mit dem unverkennbaren Duft gebratenen Hackfleischs. »Was ist das denn? Hast du Sinas Fußballmannschaft eingeladen oder wer soll das essen?«
»Ich habe deine und Fabians übliche Portion mal 2 genommen, und die Reste in den Ecken für mich eingeplant«, erklärte Tanja trocken. »Ihr könnt übrigens gleich loslegen. Sina isst bei einer Freundin, Fabi kommt später.«
Sie stellte die Auflaufform auf den Tisch. Während sie nach einem Löffel angelte, legte sie Andreas für den Bruchteil einer Sekunde die Hand auf die Schulter. Sie zog sich zurück, bevor er dazu kam, überrascht aufzusehen.
Während des Essens konnte Sascha nicht anders, als Andreas mit Argusaugen zu bewachen. Jedes Zucken des Mundwinkels, jedes Schlucken wurde beobachtet, bis er sich selbst dumm vorkam. Doch der Drang, den Freund zu beschützen und aufzufangen, blieb.
Andreas sprach wenig. Stattdessen lauschte er Tanjas Erzählungen von Fabians Schule und aß mechanisch. Nur langsam kehrte Farbe in sein Gesicht zurück. Zeitgleich schwand das Getriebene aus seinem Blick und räumte der Müdigkeit Platz ein.
Im gleichen Maße, wie Andreas sich körperlich erholte, wurde Sascha neugieriger. Lange vor der Zeit war er satt und scharrte mit den Füßen über die Fliesen. Vor Tanja konnte er Andreas nicht auf die Ereignisse in der Winterfeld-Villa ansprechen – und seine Tante besaß genug Verstand, um nicht nach der vermeintlichen Familienzusammenführung zu fragen. Aber er musste wissen, wie es gelaufen war. Ganz schlecht vielleicht nicht, dann wäre Andreas nicht hier an seiner Seite.
Nein, Sascha konnte nicht mehr essen, warf die Gabel auf den Tisch. Eine unerhört große Portion Lasagne kühlte auf seinem Teller ab, bevor Andreas ihm einen Seitenblick zuwarf und mit einem kleinen Lächeln sagte: »Ich bin satt.« Er zögerte, bevor er Tanja in die Augen sah:
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