Nach der Hölle links (German Edition)
Tresen amerikanischer Bauart lehnte. Die hohen Barhocker passten zu Andreas’ langen Beinen.
»Hm, guten Morgen«, murmelte Sascha und kam sich dämlich vor. Vieles lag ihm auf der Zunge. Eine Entschuldigung, wie es Andreas ging, und vor allen Dingen die Frage, was in der vergangenen Nacht passiert war und ob er sich richtig erinnerte, dass sie sich für einen kurzen Zeitraum sehr nah gewesen waren. Vielleicht hatte er ja doch geträumt.
Andreas warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. Seine linke Augenbraue war so hoch erhoben, dass sie in seinem Haaransatz zu verschwinden drohte. Er antwortete nicht.
Überfordert folgte Saschas Zeigefinger der Maserung in der Oberfläche des Tresens. Er sollte gehen. Dass Andreas nicht mit ihm sprach, war deutlich genug. Auf was wartete er eigentlich? Auf eine Einladung zum Frühstück?
Doch es gab so viel zu sagen. So vieles, das er Andreas endlich erklären wollte. Er hatte so lange gewartet, mit ihm sprechen zu dürfen und ihm sein Verhalten zu erklären. Sascha brauchte diesen Frieden, um weitermachen zu können.
Sieh ihn dir an, lockte der Schatten seiner ersten Liebe zärtlich in ihm. Er ist älter geworden, und er ist noch großartiger als damals. Und wie weit er gekommen ist. Ohne dich. Er sollte nicht alles allein erkämpfen müssen, aber er hat es geschafft.
»Du … hast viel erreicht«, versuchte Saschas Zunge Konversation zu machen und der Bewunderung für Andreas’ Fortschritte eine Stimme zu geben. Dass er besser geschwiegen hätte, wusste er, als Andreas’ Schulterblätter sich zusammenzogen.
Die Bewegung erinnerte an die Drohgebärde eines Schwans, der sich darauf vorbereitete, sein Revier zu verteidigen.
Hatten sie gestern geredet? Sascha wünschte, er könnte sich erinnern.
»Ja.«
»Ich nehme an, es kümmert dich nicht, aber ich …« Sascha stockte. Sollte er sich nicht erst einmal bedanken, weil Andreas ihn bei sich hatte übernachten lassen? Oder war eine Entschuldigung wichtiger? Er war unfähig zu denken. Die Anspannung war zu gewaltig. Konnte sein innerer Prozessor bitte die Arbeit wieder aufnehmen?
»Da könntest du recht haben.« Schneidend und eigenartig kontrolliert.
Sascha spürte den Zorn, der von Andreas ausging. Er sah ihn in der Art, wie er seinen Toast fallen ließ und sich mit beiden Händen gegen die Kante der Arbeitsfläche stützte. War es möglich, einen Menschen in solch einer Situation zu beschwichtigen? Und wenn ja, wollte er das überhaupt?
Der Klärungsbedarf in Sascha nahm überhand und schob alle anderen Überlegungen beiseite. »Bitte. Ich weiß, dass du sauer bist. Aber lass uns reden, ja? Ich weiß nicht, wie es dir geht. Nur finde …«
»Genau!« Andreas katapultierte sich zu Sascha herum und nagelte ihn mit vor Zorn brennenden Augen an seinem Platz fest. »Du weißt nichts von mir. Nicht, wie es mir geht. Und auch sonst nichts. Spinnst du eigentlich? Nach drei Jahren tauchst du hier auf und willst reden ? Mit mir? Auf einmal?«
Sascha zuckte zusammen, als hätte man ihn geohrfeigt. Er wollte etwas erwidern, aber ihm blieb keine Zeit – und er hatte auch nicht den Mut –, als Andreas wie ein Wolf kurz vor dem Angriff den Kopf nach vorne schob.
»Nach all der Zeit platzt du in mein Leben und willst reden. Ja, lass uns reden. Darüber, wie es sich angefühlt hat, von dem einzigen Menschen verlassen zu werden, von dem ich dachte, dass ich ihm wichtig bin. Darüber, dass du mich verraten hast, als es mir am schlechtesten ging. Darüber, dass du dein Versprechen gebrochen hast. Darüber, dass du dir danach nie wieder die Mühe gegeben hast, dich nach mir zu erkundigen oder mich zu besuchen.«
Andreas’ Stimme verlor an Lautstärke und wurde zu einem gefährlichen Zischen. Er kam auf Sascha zu.
»Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Die Hölle war ein Dreck dagegen. Niemand war bei mir, als ich in der Psychiatrie gelandet bin. Niemand war da, um mich aufzubauen oder um mich zu trösten. Es war niemand da, als sie mich gezwungen haben, in Fahrstühlen, Kaufhäusern und Stadien auszuharren. Es war abends niemand da, wenn ich vor Erschöpfung nicht mehr gehen konnte. Und alles nur, weil du dich verpisst hast. Weißt du, was es heißt, wenn sie dich sezieren? Wenn sie dir praktisch den Bauch aufschneiden, deine Eingeweide rausholen und alles auf den OP-Tisch klatschen? Wenn sie dir keinen noch so persönlichen Gedanken lassen, weil alles, wirklich alles, wichtig sein kann? Jeder beschissene
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