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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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Mädchen.
    Rebecca sah sich um und begriff, dass es um ihren ersten Tag im Kindergarten ging. Der Mittagsschlaf war zu Ende, und sie und das Mädchen hatten ihre Matten als Letzte zusammengerollt. Aus diesem Grund waren sie die Letzten am Keksteller gewesen, auf dem nur noch zwei Kekse gelegen hatten, einer mit Schokolade und einer mit Kokos.
    Das Mädchen sah Rebecca erwartungsvoll an.
    »Du hast die letzten beiden Kekse geklaut?«, fragte Rebecca.
    »Aber Mrs. Wilson hat mich erwischt«, erklärte das Mädchen. »Sie hat es gesehen, und jetzt muss ich mit dir teilen. Du darfst dir einen aussuchen.«
    »Ich kann dir immer noch nicht folgen.«
    »Rebecca, diese Erinnerung ist sehr wichtig für dich.«
    »Das glaube ich dir.«
    »Ich kann nicht fassen, dass du es vergessen hast.«
    »Ich erinnere mich aber nicht.«
    »Überhaupt nicht?«
    »Kaum.«
    »Erinnerst du dich daran, dass du noch nicht sprechen kannst?«
    »Ich weiß, dass ich erst mit fünf damit angefangen habe.«
    »Genau. Und nun ist es so weit. In diesem Moment wirst du
dein erstes Wort sagen. Los, Rebecca, nun komm schon. Die Leute halten dich für behindert.«
    »Das tut mir leid.«
    »Riech mal.«
    »Woran?«
    »Riech mal«, sagte das Mädchen und schüttelte die Hände. Die Kekse hüpften. Rebecca beugte sich vor und roch an dem Schokoladenkeks. Dann roch sie an dem Kokosraspelkeks. Sie sog beide Gerüche tief ein.
    »Du bist Heather.«
    »Genau!«
    Rebecca roch ein zweites Mal an den Keksen.
    »Und du möchtest Schokolade«, sagte sie.
    »Wer wollte das nicht?«
    »Aber du lügst mich an.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja«, sagte Rebecca. »Ich habe die Kekse gestohlen. Ich bin erwischt worden, und jetzt habe ich große Angst. Ich werde bestraft - du hast die Wahl.«
    »Vielleicht.«
    »Und mit dem Sprechen habe ich deswegen nicht angefangen, weil es nicht nötig war. Alle fühlen, was ich fühle, und deswegen wissen sie immer, was ich will.«
    »Ich nicht.«
    »Nein. Ich sende zwar, aber du empfängst nichts.«
    »Tja, ich bin fünf.«
    »Einen Menschen wie dich habe ich noch nie getroffen. Du bist zu sehr mit deinen eigenen Gefühlen beschäftigt, um meine zu beachten.«
    »Warum frage ich dich dann, welchen du möchtest?«
    »Weil du nicht weißt, welchen du möchtest. Du bist dir nicht sicher, welcher Keks der bessere ist. Du wirst den Keks auswählen,
den ich möchte. Und genau das habe ich soeben durchschaut.«
    »Welchen willst du?«
    »Kokos.«
    »Ich auch«, sagte das Mädchen.
    Heather reichte ihr den Schokoladenkeks. Rebecca griff zu und begann zu essen. Das Mädchen biss in den Kokoskeks. Beide waren glücklich mit ihrer Wahl.
    »Siehst du, Rebecca, darum ging es«, erklärte Heather mit vollem Mund. Aus ihren Mundwinkeln fielen Krümel. »Mit dem Sprechen hast du nur angefangen, um zu lügen. In diesem Moment hat alles angefangen, ab jetzt hast du versucht, deine wahren Gefühle zu verbergen. Ich kann nicht fassen, dass du es vergessen hast. Darüber solltest du mal nachdenken.«
    »Ja. Es fühlt sich tatsächlich sehr wichtig an.«
    Heather nickte. Sie drehte sich um, ging los und war mit einem Dutzend Schritte verschwunden. Rebecca schaute zu Boden. Sie stand in fünf Zentimeter tiefem Wasser, und das Wasser stieg. Bald hatte es ihre Hüfte erreicht, dann ihren Hals. Rebecca atmete ein, und ihre Lungenflügel füllten sich mit Wasser. Sie schloss die Augen, als das Wasser ihren Scheitel bedeckte. Sie wachte hustend auf. Sie lauschte in die Welt, die ihr viel zu still vorkam. Sie setzte sich auf und warf einen Blick auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens, aber Rebecca wusste nicht, dass Sonntag war, nicht Samstag, und dass sie vierunddreißig Stunden am Stück geschlafen hatte.

Dreiunddreißig
    Marmorwaschtische und beginnende Verzweiflung
    Um kurz nach drei Uhr morgens wurde Lewis von zwei Polizisten auf dem Rasen vor dem Legislative Building entdeckt. Sie hielten ihn für einen Obdachlosen, der verscheucht werden musste, änderten jedoch ihre Meinung, als sie Lewis’ gepflegte Erscheinung bemerkten. Da Lewis auf keinerlei mündliche Aufforderung reagierte, packten sie schließlich seine Arme und zwangen ihn aufzustehen.
    »Ich heiße Lewis Taylor. Ich kann weder hören noch sehen. Ich wohne im Fort Garry Hotel. Bitte helfen Sie mir.«
    Der feste Griff um seinen Oberarm lockerte sich nicht, und Lewis wurde auf die Rückbank eines Autos gesetzt. Er konnte nicht einschätzen, wie lange das Auto gefahren war, als es endlich anhielt. Er wartete

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