Nach Santiago - wohin sonst
Wölfen.
All diese Probleme bleiben dem Pilger von heute erspart, nur der anstrengende Anstieg in die Hügel hat sich nicht verändert. Am Ende der Steigung, kurz vor San Juan de Ortega, hole ich Juan ein, er macht gerade seine Mittagsrast. San Juan de Ortega ist sein Tagesziel, während es für mich nur Halbzeit bedeutet. Schade. Denn einerseits erinnert mich dieses einsame Kloster sehr an Saint Guilhem le Désert, weckt also heimatliche Gefühle in mir, andererseits wird es von einem äußerst gastfreundlichen Pfarrer betreut, der abends alle Pilger, egal wie viele es sind — und die Herberge, deren Beginn ins 16. Jahrhundert zurückreicht, zählt heute 64 Betten! — mit einer kräftigen „Sopa de Ajo“ (Knoblauchsuppe), Brot und Wein bewirtet. Ich würde nur zu gerne den Abend mit meinen Pilgerfreunden verbringen! Denn im Laufe des Nachmittags werden sie sicher alle wieder eintrudeln. Aber versprochen ist versprochen, ich muß bis Burgos, San Juan de Ortega beherbergt mich nur für die mittägliche Siesta und für einen Besuch der Klosterkirche und der Krypta, in der ihr Erbauer aufgebahrt ist. San Juan de Ortega gründete in 12. Jahrhundert in der Wildnis der Montes de Oca diese Stätte als sichere Zuflucht für „die Armen des Jakobsweges“ (schreibt der Italiener Laffi im 17. Jahrhundert). Der Mönch, Weg- und Brückenbauer starb 1163, der Besuch seines Grabes soll Eheleuten zu einem männlichen Nachkommen verhelfen.
Am Nachmittag wird es wieder heiß, die Schritte langsamer, der Rucksack schwerer. Das Feuer und die Energie des Vormittags sind dahin, jetzt heißt es nur noch ankommen. Zu allem Überdruß verliere ich zum ersten Mal in Spanien den markierten Weg und gerate auf eine hochfrequentierte Nationalstraße, die nach Burgos hineinführt. Zehn Kilometer am Straßenrand! Jeder vorbeirauschende Laster droht mir den Hut vom Kopf zu reißen, ich bin müde und durstig, ich will nur noch ankommen! Jetzt verstehe ich sehr gut, warum ich immer wieder vor Burgos gewarnt worden bin. Und warum viele Pilger ihren Pilgerstatus aufgeben und einen Bus nehmen oder versuchen, per Anhalter in die Stadt zu gelangen. Aber ich bin nun einmal ein sturer Hund, beiße die Zähne zusammen, fixiere nur noch den Meter Asphalt vor meinen Füßen und setze mechanisch Fuß vor Fuß. Ich durchquere so das gesamte Industrieviertel von Burgos, gehe vorbei an Schutthalden, Autofriedhöfen, qualmenden Fabriksschloten, abgerissenen Motels. Ich sehe nicht nur die Kehrseite des Jakobsweges, sondern die unserer Zivilisation überhaupt, die den Planeten Erde langsam (und immer schneller), aber sicher zur Müllhalde verwandelt. Aber auch das ist Realität, weder als Pilger noch als sonstwer darf ich davor die Augen verschließen.
Ich komme noch bis zum eigentlichen Ortsschild von Burgos, es beginnt das bewohnte Stadtgebiet, dann muß ich w.o. geben. Es wird dunkel, ich muß noch das ganze Zentrum durchqueren, um zur Pilgerherberge zu gelangen, die sich am westlichen Stadtrand befindet. Ohne allzu große Gewissensbisse nehme ich einen Bus, der mich die letzten zwei bis drei Stationen bis zur El Cid-Statue im Zentrum bringt. Von dort muß ich ohnehin wieder zu Fuß weiter. Und da passiert etwas, was mir zeigt, wie unsagbar müde ich sein muß: Ich bleibe mit dem Fuß an einem etwas überhöhten Pflasterstein hängen und strauchle. Der schwere Rucksack drückt mich nach unten, durch einen schnellen Ausfallschritt versuche ich den Sturz abzufangen, aber aus dem einen wird ein ganzes Dutzend immer schnellerer und kürzerer Schritte, bis ich schließlich — die Schwerkraft ist einfach stärker — in voller Länge auf dem Bauch lande und meine Hände und Knie elendiglich aufschürfe. Mein Gott, muß das blöd ausgesehen haben! Ich fluche still in mich hinein, rapple mich mühselig wieder hoch und schleppe mich weiter. Erst knapp vor dem Refugio bemerke ich zu meinem Entsetzen, daß beim Sturz mein Schweizer Messer, das ich am Brustgurt trage, aus dem Etui gerutscht sein muß. Scheiße und nochmals Scheiße! Es nützt alles nichts, ich gehe noch bis zum Refugio, setze dort den Rucksack ab und gehe die zwei Kilometer zurück in die Stadt, in der vagen Hoffnung, das Messer wiederzufinden. Es ist schon lange dunkel, vielleicht hat es noch niemand gefunden. Ich erinnere mich, wo ich gestürzt bin, berechne in etwa die Flug- bzw. Rutschbahn des doch eher schweren Messers, und ich kann es kaum glauben: es liegt genau dort, wo ich es vermutet habe!
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