Nachkriegskinder
gestiftet. Und in der ersten Nachkriegszeit sind wir jedes Jahr zum Trauergottesdienst in der Kirche zusammengekommen. Im Hürtgenwald, da sind doch so viele geblieben. Das kann man nie vergessen. Ich kann vieles nicht vergessen – das war überall schlecht. Der ganze Rückzug von Russland, schlecht, und hier in Deutschland, alles schlecht. Ich hab immer Glück gehabt, dass ich nicht verletzt wurde. Und ich muss noch mal sagen, ich hab auch keinen verletzt. Ich habe auf keinen geschossen. Aber drei Küchen habe ich verloren. Aber wir haben auch mal von den Russen eine Küche erobert. Die hatte ganz große Kessel. Die habe ich als Wasservorrat voll gemacht; ich musste ja immer Wasser haben. Es war ja auch so: Damit wir zu essen hatten, musste ich organisieren …
Bei der russischen Landbevölkerung?
Ja, aber davon möchte ich nicht reden Das kann man gar keinem erzählen. (Er zeigt vor sich auf den Tisch, wo ein Speiseplan von »Essen auf Rädern« liegt.) Da bekomm ich jetzt mein Essen her.
Und ist es gut? Mal ehrlich …
Für mich nicht. Aber ich muss es essen. Ich kann hier nicht auch noch kochen. Ich gehe noch jeden Tag raus, wenigstens eine Stunde bis eineinhalb Stunden. Ich hab unten an der Haustür einen Rollator stehen. Ohne kann ich nicht mehr laufen. Kürzlich war ich im Krankenhaus, das erste Mal in meinem Leben. Da hatte ich mit der Luft zu tun gehabt. Und ich möchte nicht noch einmal ins Krankenhaus.
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Sie sind jetzt 97 Jahre alt. Haben Sie ein Notrufgerät, falls Sie hier hinfallen sollten und nicht mehr allein hochkommen?
Nein. Wissen Sie was? Nebenan wohnen Russen – auch älter – die passen auf mich auf. Es kommt auch eine Frau die Wohnung putzen. Die kauft für mich ein. Ich lebe mutterseelenallein, aber ich bin zufrieden mit dem Leben. Wirklich.
Ich habe noch eine Frage zu Ihrem Sohn. Als der gesagt hat, er geht zur Bundeswehr, war das für Sie in Ordnung?
Ja, warum nicht. Er wollte freiwillig zur Bundeswehr. Es tut keinem schaden. Da werden sie richtig hergenommen – aber nicht so wie wir früher.
Wie war das denn früher bei Ihnen?
(lacht) Da machten sie uns zur Schnecke, wie man so sagt. Wie wir eingezogen wurden, da wurde exerziert, mit allen Schikanen. Wenn es geregnet hatte, mussten wir uns hinlegen, und wer die Hände aufstützte, kriegt die weggetreten – so drückten die uns in den Matsch rein. Ja, so war früher die Ausbildung. Aber, wie gesagt, das ist alles weg bei mir. Ich bin froh, dass ich noch da bin, und ich möchte auch noch was leben. Aber im Alter vergisst man viel. Ich muss mir alles aufschreiben. Dass Sie heute kamen, das hab ich mir aufgeschrieben.
Hat Ihr Sohn Sie früher mal nach Ihren Kriegserlebnissen gefragt?
Nein.
Haben Sie ihm von sich aus davon erzählt?
Nein. Dafür war keine Zeit. Ich hatte meine Arbeit, und dann war ich abends froh, wenn ich in Ruhe gelassen wurde. Meinem Sohn ging es genauso, hatte ja auch tun. Erst die Schule, dann die Ausbildung.
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Worüber wir noch nicht geredet haben: Woran ist Ihr Sohn gestorben?
Es wurde mir nicht gesagt. Ich habe nur die Nachricht von der Polizei bekommen. Das war vor einem halben Jahr.
Die haben nichts Näheres über die Todesumstände gesagt?
Ich habe auch nicht nachgefragt. Er hatte mit Alkohol zu tun und mit Rauschgift – nehme ich an. Aber ich hatte ihn zu der Zeit schon abgeschrieben. Vorher hatte ich 15 Jahre keinen Kontakt zu ihm. Ich wusste gar nicht, wo er war.
Herr S., Sie wissen, die Verbrechen aus der Nazizeit sind für viele, die später geboren wurden, bis heute eine Belastung. Sie sind ein religiöser Mensch. Darum meine Frage an Sie: Wie kriegen die Deutschen diese Schuld los?
Sie werden sie nie loswerden. Nein, ich glaube es nicht. Das bleibt drinnen hängen. Das geht nicht mehr weg. Ich sag mir immer: Jeder weiß doch, was mit der SS war. Aber sprechen tut heute keiner mehr davon. Und ich auch nicht. Ich weiß vieles, aber ich möchte nicht drüber sprechen. Was in Russland alles passiert ist, ja, das waren dort auch alle Menschen genau wie unsereiner auch … Und ich persönlich, ich musste sehen, dass ich für die Soldaten was zu essen hatte. Manchmal wurden Lebensmittel angefordert, und was kam? Nichts kam. Aber wir mussten doch für die Soldaten was haben! Da musste man auch was machen, was sich nicht gehörte.
Was heißt das? Den russischen Bauern das Letzte wegnehmen?
Ja. Und ich persönlich, ich konnte das nicht.
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