Nachkriegskinder
sie diesem wirtschaftlichen Druck in ihrer Arbeit nicht ausgesetzt war. Ihre Vision sah anders aus. Sie wollte geistig behinderten Frauen nicht irgendetwas zu tun geben, nur damit sie beschäftigt waren. Sie, Tochter eines Handwerkers, setzte auf Handwerk. Sie wollte den Behinderten das Weben beibringen.
Außergewöhnliche Projekte entstehen nur dann, wenn die richtigen Leute am richtigen Ort beisammen sind. So muss es auch bei Brunhild Bomberg gewesen sein, denn ihr Arbeitgeber stand voll hinter ihrem Konzept. Man begriff, dass es sich um ein Projekt des langen Atems handelte, und so ließ man den behinderten Frauen unbegrenzt Zeit – solange, bis sie ihre Scheu vor den Webstühlen überwanden. Und der Erfolg? Die Frauen blühten auf. Am Ende besaßen sie nicht nur Fertigkeiten in einem Handwerk, sondern auch neues Selbstvertrauen. Nur so ist zu erklären, dass sie schließlich ihre Wandteppiche selbst gestalteten. Diese reisten später in diversen Ausstellungen durch das inzwischen vereinte Land. Die Besucher waren verblüfft und angerührt, die Fachwelt erkannte hoffnungsvolle neue Wege in der Behindertenarbeit.
Leider blieb es bei den Worten. Kein Funke sprang über, keine freundliche Übernahme eines humanen Konzepts, das sich bewährt hatte. In den Jahren nach dem Mauerfall setzten sich auch in Ostdeutschland die westlichen Behindertenwerkstätten durch, und irgendwann sah Brunhild Bombergs neue Aufgabe so aus, dass sie die ihr anvertrauten Frauen bei eintöniger Arbeit mit Gummidichtungen beaufsichtigte. Lange hielt sie das deprimierende Ambiente nicht aus. Doch ihr Abschied aus der Behindertenarbeit brachte zunächst nur eine äußerliche Trennung. |200| Tatsächlich brauchte sie Jahre, um das traurige Ende einer erfolgreichen und erfüllten Lebensaufgabe zu verdauen.
Vier Generationen unter einem Dach
Heute arbeitet sie als Kunsttherapeutin mit Traumapatienten. Sie wohnt mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus, in dem auch ihre beiden Kinder groß wurden. Seit sie erwachsen sind und ihr eigenes Leben führen, genießt die Mutter die Stille, wenn sie von der Arbeit heimkommt. Was für ein Kontrast zum Mehrfamilienhaus ihrer Nachkriegskindheit! Dort war immer etwas los, auch Streit, auch Drama, auch das Lachen der Erleichterung, wenn ein Drama sich als harmlos entpuppte. Vier Generationen unter einem Dach bildeten über viele Jahre eine Überlebensgemeinschaft. Man unternahm Hamsterfahrten und war dankbar, dass man einen eigenen Garten hatte. Im Waschkessel wurde Pflaumenmus gekocht. Man hielt Schweine und auch Ziegen, um die kleinen Kinder mit Milch zu versorgen. Erst in den sechziger Jahren, erinnert sich Brunhild, habe sich die Lage entspannt, da erst habe die Großfamilie gewusst: Die schlimmste Not lag hinter ihnen.
»Die Räume, in denen ich aufwuchs, waren ärmlich und kalt«, berichtet sie. »Ich spielte lieber draußen als drinnen, auch im Winter.« Die Zuteilung auf Grund der Kohlemarken reichte nicht aus, und so wurden die gefräßigen Öfen mit den Wurzeln gefällter Bäume gefüttert, die der Vater unter größten Anstrengungen ausgrub. Aber richtig warm wurde es in dem alten Haus nie – für die Familie ein weiterer Grund zusammenzurücken.
Wenn der Schnee geschmolzen war, wenn es wieder wärmer wurde, besserte sich Helmut Rudows Laune. Fahrradausflüge mit Frau und Kindern machten ihm Freude. Aber ganz oben auf der Liste dessen, was seinem Leben Glanz gab, stand die Musik. Sie hatte ihm geholfen, schwere Zeiten durchzustehen und sich selbst treu zu bleiben. Von dieser Kraftquelle, wünschte er sich, sollten |201| auch seine Kinder profitieren. Er brachte ihnen das Flötenspiel bei, und seine Tochter wurde von ihm drei Jahre lang im Geigenspiel unterrichtet. Seine Freunde, so erinnert sich Brunhild, hätten ihn auf Grund seiner musischen Seite als Schwächling eingestuft. Doch anders zu sein als andere war für Helmut Rudow keine Schande. Er wusste besser als die Menschen seiner Umgebung, was er brauchte, damit es ihm geistig und seelisch gut ging.
Ein Traumatisierter mit vielen Ressourcen
»Mein Vater hatte eine ganze Reihe von Ressourcen, aus denen er Kraft schöpfte«, erläutert Brunhild Bomberg mit dem geschärften Blick einer Therapeutin: »Er hatte eine sehr liebevolle Mutter, er hatte seinen Glauben, sein Handwerk und seine große Liebe zur Musik.« Beruflich hätte er lieber etwas anderes gemacht, als den Familienbetrieb weiterzuführen, räumt sie ein, aber nur so habe er
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