Nachkriegskinder
Mütter hochgehalten wurde.
Auch in Brunhilds Familie war der Vater ein abwesender Vater, der sich meistens in seiner Werkstatt aufhielt, ein Mann, der seine Ruhe haben wollte und es seiner Frau überließ, wie man die Kinder zu Gehorsam erzog. »Mutters große Angst war, die Kinder könnten nicht geraten«, stellt die Tochter fest, »daher ihre Einstellung: Zur Liebe gehören Hiebe.« Da sei sie der neuen Zeit deutlich hinterhergehinkt, fügt sie hinzu, denn in der Schule sei das Schlagen von Kindern Tabu gewesen. Nie habe sie das erlebt. Dort habe man einen Lehrer sehr lange provozieren müssen, bis der losbrüllte.
|204| Urgroßmutter war der Schutzengel
»Mutter war eigentlich ständig überlastet«, sagt sie. »Das war wohl auch der Grund für ihre Ausraster uns gegenüber.« Zum Glück gab es noch andere Erwachsene im Haus, älter und lebenserfahren, die für die Kinder Partei ergriffen: die bereits erwähnte pragmatische Großmutter mit dem Kissen und vor allem die Urgroßmutter. »Sie war immer da, auf sie konnte ich mich verlassen«, berichtet Brunhild. »Wenn es Dresche geben sollte, bin ich zur Urgroßmutter geflüchtet. Die hatte ich bis zum neunten Lebensjahr, und eigentlich war sie mein Schutzengel.«
Die Mutter war eine leidenschaftliche Leserin. Im Winter, wenn sie Zeit hatte, sah man sie mit dem Rücken zum Ofen, in ein Buch versunken. Später erfuhr ihre Tochter, die Mutter habe sogar während des Stillens dicke Bücher verschlungen. »Ich hab’s dann selbst ausprobiert, als mein erstes Kind geboren war«, verrät sie, »Es hat nicht funktioniert! Wo war meine Mutter, als sie mich gestillt hat? Bestimmt nicht bei mir. Davon habe ich später viel in der Lehrtherapie aufgearbeitet.« Sie erkannte, dass beide Eltern für sie emotional nicht erreichbar waren und dass auch die Mutter ein Kriegstrauma in sich trug. Inzwischen ist sich Brunhild Bomberg ihrer schwierigen Rolle als Tochter einer sehr unterstützungsbedürftigen Mutter bewusst. Sie kann sehen, wie sie schon als Kind die Mutter »bemutterte«, wie sie sich für deren Lebenszufriedenheit zuständig fühlte, wie sie diese Rolle als Erwachsene fortsetzte, und wie sie sich schließlich aus ihrer Abhängigkeit befreite.
Brunhild Bomberg kennt alle niedermachenden Erziehungssprüche von »Stell dich nicht so an« über »Du kriegst keine Extrawurst« bis »Das geht dich nichts an.« In dieser Hinsicht gab es offenbar keine Ost-West-Unterschiede. Der Umgang mit Kindern in Brunhilds Elternhaus während der fünfziger, sechziger Jahre war nicht grundsätzlich anders als der in der Bundesrepublik.
In den siebziger Jahren trampte Brunhild mit einer Freundin |205| durch die Sowjetunion und machte durchweg gute Erfahrungen. Voller Hochachtung gegenüber dem russischen Volk habe sie die Reise angetreten, erklärt sie. Nein, sie sei nicht naiv gewesen. Die Fakten über Vernichtungskrieg, Holocaust und Gulag habe sie gekannt. Niemand habe sie oder ihre Freundin beschimpft, fügt sie hinzu, niemand habe ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie Deutsche waren. »Man begegnete Menschen und nicht Ideologien.«
Als der Vater sein Schweigen brach
Nie hätte sie ihren Vater bewegen können, nach Russland zu fahren. Mit Recht befürchtete er, eine solche Reise werde ihn mit Erinnerungen überschwemmen, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Aber diese oder andere Vorsichtsmaßnahmen konnten ihn auf Dauer nicht schützen. Mit zunehmendem Alter ließen sich die Kriegserlebnisse nicht mehr auf Abstand halten. Er musste darüber sprechen. Mit Ende Siebzig, es war Weihnachten, brach er sein Schweigen. Zum ersten Mal erzählte er zusammenhängend von Stalingrad: wie die Männer froren, wie sie hungerten, wie sie Gras aßen, wie sie sich vor Angst in die Hose machten.
»Später, als Pflegefall, hatte Vater Probleme, in die Windeln zu urinieren«, berichtet seine Tochter. »Als seine Kräfte schwächer wurden, ging der Deckel auf. Da kamen auch die Alpträume. Jede Nacht hat er schreckliche Filme geschoben. Wir in der Familie haben es mitbekommen, denn wir haben im Wechsel bei ihm gewacht.« Der inzwischen 85-Jährige war unruhig und erregt. Etwas bedrängte ihn, er sprach mit einem Gegenüber, oft fiel das Wort »Vergebung«. Erst im Sterbeprozess begriff seine Tochter, dass Helmut Rudow jemanden erschossen hatte und sein Gewissen damit nicht fertig wurde. Wie seine Familie erfuhr, muss es sich um einen Russen gehandelt haben, der eine deutsche
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