Nachricht von dir
ganze Reihe von Kapitän-Haddock-Flüchen beigebracht hatte, verstand er sich hervorragend. Aber der Vogel war ein durchtriebener Kauz, und sein übler Charakter und das lose Mundwerk waren Jonathan nicht wirklich angenehm.
»Gar nicht müdeee?«, wiederholte Boris.
»Doch, stell dir vor, ich bin zu müde, um schlafen zu können.«
»Waffeleisen!«, beschimpfte Boris ihn.
Jonathan näherte sich dem Vogel, der mit seinem gekrümmten Schnabel und den kräftigen Krallen majestätisch auf seiner Stange thronte. Trotz seines Alters glänzte sein gold-türkisfarbenes Gefieder noch, und der feine schwarze Flaum um seine Augen gab ihm etwas Stolzes, ja, Überhebliches.
Das Tier wippte mit seinem langen Schwanz und verlangte:
»Ich will Äpfel, Pflaumen und Bananen …«
Jonathan sah sich die Voliere an.
»Du hast deine Gurken und den Chicorée noch nicht gegessen.«
»Widerlich, der Chicorée! Ich will Pinienkerne, Nüsse und Erdnüüüsse!«
»Genau, und ich will Miss Universum in meinem Bett!«
Jonathan schüttelte den Kopf und klappte seinen Computer auf.
Er rief seine E -Mails ab, antwortete zwei Lieferanten und bestätigte mehrere Reservierungen. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete die unzähligen Lichter, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Von hier aus war der Blick auf die Bucht atemberaubend. Die Wolkenkratzer des Business-Viertels zeichneten sich vor der massiven Silhouette der Bay Bridge ab, die nach Oakland führte. Dieser Moment der Ruhe wurde von einem wenig vertrauten Klingelton unterbrochen: Nach seinen rudimentären Musikkenntnissen zu urteilen, handelte es sich um den Anfang des Caprice von Paganini.
Das Smartphone von Madeline Greene.
Wenn er schlafen wollte, durfte er nicht vergessen, es auszuschalten, denn wegen der Zeitverschiebung würde es sicher mehrere Anrufe geben. Dennoch beschloss er, das Gespräch anzunehmen.
»Ja?«
»Bist du es, meine Hübsche?«
»Ähm …«
»Bist du nicht zu müde? Ich hoffe, du hattest eine gute Reise.«
»Hervorragend! Sehr freundlich, dass Sie sich Sorgen um mich machen.«
»Aber sind Sie nicht Madeline?«
»Wie scharfsinnig.«
»Bist du es, Raphael?«
»Nein, hier ist Jonathan aus San Francisco.«
»Juliane Wood, sehr erfreut. Darf ich fragen, warum Sie am Telefon meiner besten Freundin sind?«
»Weil wir versehentlich unsere Handys vertauscht haben.«
»In San Francisco?«
»Nein, in New York am Flughafen. Aber das ist zu lang, um es jetzt zu erklären.«
»Ach? Na ja, sehr witzig …«
»Ja, vor allem, wenn es anderen passiert. Und Sie …«
»Wie ist das passiert?«
»Also hören Sie, es ist spät, und das ist auch nicht sehr interessant.«
»O doch, ganz im Gegenteil, erzählen Sie es mir.«
»Rufen Sie aus Europa an?«
»Ja, aus London. Ich werde Madeline bitten, es mir zu sagen. Wie ist Ihre Nummer?«
»Wie bitte?«
»Ihre Telefonnummer. Damit ich Madeline anrufen kann …«
»Ich denke nicht daran, Ihnen meine Nummer zu geben, ich kenne Sie nicht mal!«
»Aber Madeline hat doch Ihr Handy!«
»Verflixt, es wird ja wohl eine andere Möglichkeit geben, sie zu erreichen. Rufen Sie zum Beispiel Raphael an.«
Was für eine Quasselstrippe , dachte er und drückte auf die Ende-Taste.
»Hallo, hallo«, rief Juliane am anderen Ende der Leitung.
Was für ein ungehobelter Klotz , schimpfte sie, als ihr klar wurde, dass er das Gespräch einfach beendet hatte.
Jonathan war fest entschlossen, das Handy auszuschalten, doch dann trieb ihn eine plötzliche Neugier dazu, sich noch einmal die Fotos anzusehen. Außer den wenigen erotischen Bildern befanden sich in den meisten Ordnern Reiseaufnahmen, ein richtiges Erinnerungsalbum von den romantischen Trips des verliebten Paars. So sah man Madeline und Raphael auf der Piazza Navona in Rom, in einer Gondel in Venedig, vor den Gaudí-Bauten in Barcelona, in der Straßenbahn in Lissabon oder auf Skiern in den Alpen. Viele dieser Orte hatte auch Jonathan in seiner glücklichen Zeit mit Francesca besucht. Doch das Glück der anderen war schmerzlich für ihn, und so überflog er die Fotogalerie nur.
Trotzdem konnte er es nicht lassen, den restlichen Inhalt von Madelines Telefon, vor allem die Musikbibliothek, zu untersuchen. Nachdem er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte – Best-of-Alben von Mainstream, Pop und R&B –, runzelte er verwundert die Stirn, als er genau die Musik entdeckte, die ihm gefiel: Tom Waits, Lou Reed, David Bowie, Bob Dylan, Neil
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