Nachricht von dir
sie, etwas Ungeschicktes zu sagen oder sich zu einer übertriebenen Vertraulichkeit hinreißen zu lassen.
»Nein, Geige. Die Musik ist meine Leidenschaft.«
»Und in der Schule ist alles in Ordnung? In welcher Klasse bist du?«
Sie lächelte.
»Ist schon gut. Sie brauchen keine Konversation mit mir zu machen.«
»Und was hast du damit bezweckt, auszureißen?«
»Und jetzt gehen Sie mir auf die Nerven«, entgegnete sie und vertiefte sich erneut in ihre Zeitungslektüre.
23 Uhr
Alice war vor zwei Stunden eingeschlafen, erwachte aber auf der Höhe von Beaune, während wir auf der A 6 in Richtung Lyon fuhren.
»Wann findet die Beerdigung Ihres Vaters statt?«, fragte sie und rieb sich die Augen.
»Übermorgen.«
»Woran ist er gestorben?«
»Keine Ahnung.«
Sie blickte mich verwundert an.
»Wir hatten seit fünfzehn Jahren keinen Kontakt mehr«, fügte ich ausweichend hinzu.
Aber da ich kein schlechtes Gewissen hatte, erzählte ich weiter.
»Mein Vater besaß ein Restaurant, La Chevalière , Place de la Libération in Auch. Sein ganzes Leben lang strebte er nach einem Stern im Guide Michelin , doch es blieb ein Traum.«
Ich überholte mehrere Autos, bevor ich fortfuhr:
»Mit vierzehn Jahren arbeitete ich in den Sommerferien in seinem Restaurant. Abends blieb ich nach meinem Dienst in der Küche, um meine Ideen auszuprobieren. Auf diese Weise kreierte ich drei Hauptgerichte und zwei Desserts, die mein Vater unter dem Druck seines Sous-Chefs auf seine Speisekarte setzte. Dank der Mund-zu-Mund-Propaganda kamen viele Leute, um genau diese Gerichte zu bestellen. Meine Gerichte. Mein Vater schätzte es gar nicht, dass ich ihn in den Schatten stellte. Nach Ferienende schickte er mich in ein Internat in Sophia-Antipolis, westlich von Nizza.«
»Das ist hart.«
»Ja. Wenige Monate später bekam das Familienunternehmen einen Stern vom Michelin zuerkannt, wobei speziell die neuen Gerichte Erwähnung fanden! Mein Vater nahm mir das äußerst übel, als hätte ich ihm den schönsten Tag seines Lebens verdorben.«
»So ein Idiot!«
»Das war die erste Etappe unseres Bruchs.«
Sie griff nach der Ausgabe der Time Out New York , die zu ihren Füßen lag, und deutete auf einen der Artikel.
»Und diese Geschichte, ist die wahr oder Legende?«
»Ich kann nur fahren oder lesen.«
»Es heißt, Sie hätten Ihre Frau mit Makronen verführt!«
»Das ist eine grobe Vereinfachung«, erwiderte ich lächelnd.
»Los, erzählen Sie!«
»Damals hatte Francesca gerade einen Bankier geheiratet. Sie war auf Hochzeitsreise an der Côte d’Azur und wohnte in dem Hotel, in dem ich arbeitete. Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick, als hätte ich mir einen Virus eingefangen. Später am Abend sah ich sie allein am Strand spazieren gehen und eine Zigarette rauchen. Ich fragte sie nach ihrem Lieblingsdessert, und sie antwortete: Schokoladen-Makronen, so wie ihre Großmutter sie zubereitet hatte …«
»Und dann?«
»Ich habe die ganze Nacht in den USA herumtelefoniert. Schließlich gelang es mir, ihre Großmutter ausfindig zu machen und ihr das Rezept zu entlocken. Den halben folgenden Tag verbrachte ich damit, besagte Makronen zu kreieren, von denen ich ihr am Abend ein Dutzend kredenzte. Der Rest gehört in den Bereich der Legende.«
»Das hat Klasse!«, musste Alice zugeben.
»Ich danke dir.«
»Letzten Endes sind Sie ein wenig wie Schumann«, meinte sie lachend. »Um seiner Liebsten zu gefallen, hat er Stücke für sie komponiert. Und Sie haben Makronen-Rezepte für Ihre Zukünftige ersonnen!«
Chalon-sur-Saône, Tournus, Mâcon … Es war Mitternacht, als ein Schild ankündigte: Lyon, 60 km.
»Happy New Year!«, rief Alice.
»Bonne Année«, erwiderte ich.
»Ich sterbe vor Hunger.«
»Ich auch. Wir machen an einer Tankstelle Pause und kaufen uns Sandwichs.«
»Sandwichs! Ich hör wohl nicht recht! Ich feiere Silvester mit dem größten Koch der Welt, und er will mit mir in Zellophan eingewickelte Sandwichs essen!«
Zum ersten Mal seit einer Woche brach ich in herzliches Lachen aus. Die Kleine war wirklich erfrischend.
»Was soll ich tun? Schließlich kann ich dir hier im Wagen nichts kochen.«
»Können wir nicht irgendwo anhalten?«
Nach vierhundertfünfzig Kilometern ununterbrochener Fahrt waren wir beide sehr müde.
»Du hast recht, wir haben uns eine kleine Ruhepause verdient.«
Zwanzig Kilometer weiter nahm ich die Ausfahrt Lyon, fuhr ins Zentrum und parkte in einer
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