Nachricht von dir
Recht, ihn derart zu betrügen.
Und dennoch hatte sie nach dem Telefonat mit Jim Flaherty nicht eine Sekunde gezögert, ihr Flugticket zu kaufen.
Ihr ehemaliger Kollege hatte die Nummer ihres Geschäfts herausgefunden und sie am frühen Nachmittag angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ein gewisser Jonathan Lempereur, der vorgab, sie zu kennen, gekommen war, um ihn über den Fall Dixon auszufragen.
Der Fall Dixon …
Alice.
Allein die Erwähnung dieses Namens war wie ein Elektroschock gewesen und eine Erklärung für ihr eigenes Verhalten in den letzten Tagen. Das war ein Zeichen des Himmels! Das Schicksal hatte sie von dem Augenblick an, als sie ihr Handy mit dem von Lempereur vertauscht hatte, zum Besten gehalten. Durch ihre Nachforschungen über George, Francesca und Jonathan war sie wieder auf Alice gestoßen!
Sie hatte den Fall und das Mädchen noch genauestens in Erinnerung, als läge er erst Wochen zurück . Ein klares Bild, das sie vergeblich wegzuschieben versucht hatte, um sich gegen den Wahnsinn zu schützen. Eine Wunde, die noch immer in ihrer Seele klaffte und sich nicht schließen wollte.
Man befreit sich nicht so einfach von seiner Vergangenheit. Man rettet sich nicht so einfach aus dem Treibsand seiner Obsession.
Alice kam zurück.
Alice ließ ihr keine Ruhe.
Letztes Mal hatte die schreckliche Sache mit dem Herzen sie dazu veranlasst, die Ermittlungen einzustellen.
Diesmal war sie bereit, bis zum bitteren Ende zu gehen.
Egal, welchen Preis sie dafür bezahlen müsste.
‹
Kapitel 23
Der doppelseitige Spiegel
Ich kenn’ nicht meinen Weg im Sand, und leichter gehts, wenn meine Hand die Deine drückt!
Alfred Musset,
À mon frère revenant d’Italie, 1844
Donnerstag, 22. Dezember
Flughafen Nizza, Côte d’Azur
11:55 Uhr
Die Landebahn war in strahlendes Sonnenlicht getaucht.
Jonathan hatte soeben das winterliche Grau Englands verlassen und genoss jetzt das milde Mittelmeerklima. Am Flughafen nahm er ein Taxi nach Antibes. Der Fahrer verließ die Autobahn und fuhr über die Küstenstraße. Auf der Promenade des Anglais hätte man sich im Frühjahr in Kalifornien wähnen können: Die Sportler absolvierten ihr Jogging, Rentner führten ihre Hunde aus, und zahlreiche Angestellte nahmen ihren Mittagssnack mit Blick auf die Baie des Anges ein.
Nach zwanzig Minuten erreichte der Wagen Antibes und fuhr durch das Stadtzentrum zum Boulevard de la Garoupe. Je näher Jonathan seinem Ziel kam, umso aufgeregter wurde er. Wer mochte heute in dem »Haus von Alice« wohnen? Es war Ferienzeit. Vielleicht verbrachte das junge Mädchen, das er vor zwei Jahren hierher begleitet hatte, Weihnachten noch bei ihren Eltern?
»Bitte warten Sie kurz«, sagte er zu dem Fahrer, als sie den Weg zum »Sans-Souci« erreichten.
Diesmal war das Tor geschlossen. Er musste wiederholt klingeln und sich vor der Überwachungskamera ausweisen, ehe man ihm öffnete.
Er lief über den Kiesweg durch den Pinienhain. Es duftete nach Thymian, Rosmarin und Lavendel. Auf der Freitreppe erwartete ihn eine Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie trug einen Schal um den Kopf und eine Palette in der Hand, im Gesicht hatte sie mehrere Farbflecken: Er hatte sie offensichtlich beim Malen gestört.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau mit einem österreichischen Akzent, der ihre Ähnlichkeit mit Romy Schneider unterstrich.
Sie hieß Anna Askin und hatte das Haus im Frühling 2001 gekauft. Einen großen Teil des Jahres vermietete sie das Anwesen – zumeist wochenweise – an reiche Russen, Engländer oder Holländer.
Das verwunderte Jonathan nicht wirklich. Alice hatte ihn also belogen, denn ihre »Eltern« waren nicht die Besitzer der Villa.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich suche nach einer Familie, die vor zwei Jahren Ihr Haus gemietet hat. Monsieur und Madame Kowalski. Sagt Ihnen das etwas?«
Anna Askin schüttelte den Kopf. Zumeist traf sie die Mieter nicht persönlich; ihr Mann war ein Fan von Haustechnik und hatte die Villa automatisiert. Alles funktionierte mittels computergesteuerter Codes und Infrarot-Anlagen.
»Ich erinnere mich nicht, aber ich kann nachsehen.«
Sie machte Jonathan ein Zeichen, sie auf die Terrasse zu begleiten. Er folgte ihr zu einer runden Plattform mit Blick auf das Meer und die Felsen. Neben der Staffelei stand auf einem Teaktisch ein ultramoderner Laptop, von dem entspannende Musik ertönte. Die Österreicherin öffnete eine Excel-Tabelle, in der die
Weitere Kostenlose Bücher