Nachrichten aus Mittelerde
sie es vermeiden können. Männer sollen heiter sein, glauben sie, großzügig wie die Reichen und verschenken, was sie nicht brauchen. Wut zeigen sie nur dann, wenn sie plötzlich gewahr werden, dass es neben der ihren noch andere Willenskräfte in der Welt gibt. Dann werden sie so unbarmherzig wie der Meereswind, wenn ihnen irgendetwas zu trotzen wagt.
So verhält es sich, Ancalime, und wir können es nicht ändern. Männer nämlich haben Númenor sein Gesicht gegeben: Männer, jene Helden von einst, von denen die Lieder singen – von ihrenFrauen hören wir weniger, außer dass sie weinten, als ihre Männer getötet wurden. Númenor sollte ein Ort der Ruhe nach dem Krieg sein. Aber wenn sie der Ruhe und der Spiele des Friedens überdrüssig sind, werden sie zu ihrem großen Spiel zurückkehren, Menschen zu töten und Krieg zu führen. So ist es; und wir sind hier mitten unter sie gepflanzt. Doch wir brauchen keine Zustimmung. Weil wir Númenor ebenso lieben, wollen wir uns seiner erfreuen, ehe sie es zerstören. Auch wir sind Töchter der Großen, und wir haben unseren eigenen Willen und Mut. Deshalb beuge dich nicht, Ancalime. Beuge dich ein einziges Mal ein wenig, und sie werden dich weiter unterwerfen, bis du zu Boden gedrückt bist. Senke deine Wurzeln in den Fels und biete dem Wind die Stirn, wenn er auch alle deine Blätter fortweht.«
Außerdem hatte Erendis Ancalime immer stärker an die Gesellschaft von Frauen gewöhnt: das gelassene, stille, zarte Leben in Emerië, ohne Störungen und Aufregungen. Jungen wie Îbal machten Lärm. Männer ritten herbei, bliesen zu ungewöhnlichen Stunden Hornsignale und wurden mit großem Getöse verpflegt. Sie zeugten Kinder und überließen sie der Obhut der Frauen, wenn sie lästig waren. Obwohl die Geburt weniger Krankheit und Gefahr in sich barg, war Númenor kein »irdisches Paradies«, und die Mühsal der Arbeit oder jeglicher Tätigkeit war nicht von ihm genommen.
Ancalime ging wie ihr Vater bei der Verfolgung ihrer Ziele entschlossen zu Werke; und wie er war sie eigensinnig und tat das Gegenteil von dem, was ihr geraten wurde. Sie besaß etwas von der Kühle ihrer Mutter und von ihrer Empfindlichkeit gegen persönliche Kränkungen. Tief in ihrem Herzen, beinahe, doch nicht völlig vergessen, war die Festigkeit, mit der Aldarion ihre Hand ergriffen und sie auf den Boden gesetzt hatte, als er es beim Aufbruch eilig hatte. Sie liebte die Hügellandschaft ihrer Heimat von ganzem Herzen und niemals (wie sie sagte) konnte sie in ihrem Leben friedlich schlafen, wenn sie weit entfernt war vom Blöken der Schafe. Das Erbe jedoch wies sie nicht zurück und beschloss, wenn ihr Tag kam, eine mächtige regierende Königin zu sein. Dann wollte sie leben, wo und wie es ihr gefiel.
Es scheint, dass Aldarion, nachdem er König geworden war, etwa achtzehn Jahre lang öfter von Númenor abwesend war; während dieser Zeit verbrachte Ancalime ihre Tage sowohl in Emerië als auch in Armenelos, denn Königin Almarian fand großen Gefallen an ihr undverwöhnte sie ebenso, wie sie es mit Aldarion in seiner Jugend getan hatte. In Armenelos wurde sie von allen mit Ehrerbietung behandelt, und nicht zuletzt von Aldarion; und obgleich sie sich anfangs unbehaglich fühlte, weil sie die luftigen Weiten ihrer Heimat vermisste, legte sie ihre Befangenheit mit der Zeit ab, und sie bemerkte, dass Männer ihre Schönheit, die sich nun voll entfaltete, mit Bewunderung betrachteten. Als sie älter wurde, wuchs ihre Eigenwilligkeit immer mehr, und sie fand Erendis’ Gesellschaft langweilig, weil diese sich wie eine Witwe aufführte und nicht Königin sein wollte. Doch weiterhin kehrte sie nach Emerië heim, weil es vor Armenelos Zuflucht bot und sie Aldarion damit ärgern wollte. Sie war gescheit und mutwillig und betrachtete den Kampf zwischen Vater und Mutter als einen, bei dem es jedem nur um sein eigenes Vergnügen ging.
Im Jahr 892, als Ancalime neunzehn Jahre alt war, wurde sie zum Königserben ausgerufen (in einem weit jüngeren Alter, als es früher der Fall war; vgl. Seite 289); und zu dieser Zeit veranlasste Tar-Aldarion, dass das Recht der Nachfolge in Númenor geändert wurde. Im Einzelnen wird ausgeführt, dass er dies »eher aus privaten als aus politischen Gründen tat« und »aufgrund seines langen gehegten Vorsatzes, Erendis eine Niederlage zu bereiten«. Auf diese Änderung des Gesetzes wird im
Herrn der Ringe
(Anhänge A, I) Bezug genommen:
»Der sechste König
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