Nachrichten aus Mittelerde
Dimbars sickerte, kehrten sie in den Trockenen Fluss zurück, der bald darauf nach Osten verlief und sich zu den nackten Bergwänden emporwand. Unmittelbar vor ihnen ragte eine große Klippe auf, die unvermittelt senkrecht aus einem steilen Hang herauswuchs, der mit einem Dickicht von Dornenbäumen bedeckt war. Das Flussbett führte in dieses Dickicht hinein, und es wardort noch dunkel wie in der Nacht. Sie blieben stehen, denn die Dornen reichten seitlich tief in die Rinne hinab. Ihre verflochtenen Zweige bildeten ein dichtes Dach darüber, das so niedrig war, dass Tuor und Voronwe oft wie Tiere, die in ihr Versteck zurückkehren, unter ihm hindurchkriechen mussten.
Aber schließlich, als sie unter großen Mühen den Fuß der Klippe erreicht hatten, fanden sie eine Öffnung, gleichsam den Eingang zu einem Tunnel, den die aus dem Inneren der Berge fließenden Wasser in den harten Fels gegraben hatten. Sie traten ein, und drinnen war es völlig dunkel. Doch Voronwe schritt rüstig vorwärts, und Tuor folgte ihm, die Hand auf Voronwes Schulter und ein wenig gebückt, denn der Gang war niedrig. Eine Zeit lang gingen sie so, Schritt für Schritt und ohne etwas zu sehen, bis sie plötzlich spürten, dass der Boden unter ihren Füßen glatt wurde und frei von Geröll. Sie blieben stehen, atmeten tief und lauschten. Die Luft erschien ihnen frisch und erquickend, und sie merkten, dass sie sich in einem großen Gewölbe befanden. Doch alles war still, und nicht einmal das Geräusch eines fallenden Wassertropfens war zu hören. Tuor wollte es scheinen, als sei Voronwe besorgt und von Zweifeln geplagt, und er flüsterte ihm zu: »Wo ist das Bewachte Tor? Oder haben wir es schon passiert?«
»Nein«, antwortete Voronwe. »Aber ich wundere mich darüber, dass irgendein Ankömmling so weit vordringen kann, ohne bemerkt zu werden. Ich fürchte einen Angriff aus dem Dunkel.«
Aber ihre geflüsterten Worte weckten die schlafenden Echos, sie wurden verstärkt und vervielfacht, liefen am Gewölbedach und an den unsichtbaren Wänden entlang, zischelten und murmelten, ein Geräusch wie von vielen heimlichen Stimmen. Und just als die Echos von den Felsen verschluckt wurden, hörte Tuor aus dem Herzen der Finsternis eine Stimme, die in der Elbensprache redete: zuerst in der Hochsprache der Noldor, dieer nicht kannte, und dann in der Sprache Beleriands; doch sie wurde in einer für ihn merkwürdigen Weise gesprochen, als sei der Sprecher seit langer Zeit von seiner Heimat entfernt. 26
»Stehen bleiben! Rührt euch nicht vom Fleck, oder ihr werdet sterben, ob ihr Freunde oder Feinde seid.«
»Wir sind Freunde«, sagte Voronwe.
»Dann tut, was wir gebieten«, sagte die Stimme.
Das Echo ihrer Stimmen verklang. Tuor und Voronwe verharrten stumm, und Tuor kam es vor, als schlichen viele Minuten langsam dahin; er empfand eine Furcht, wie er sie während ihres ganzen Weges bei keiner Gefahr erlebt hatte. Dann hörten sie Schritte, die zu festen, hallenden Tritten wurden, als marschierten Trolle durch die weite Höhle. Plötzlich leuchtete eine Elbenlampe auf; ihr heller Lichtstrahl richtete sich auf den vor ihm stehenden Voronwe, doch sonst konnte Tuor nicht mehr erkennen als einen blendenden Stern in der Dunkelheit. Er wusste, dass er sich nicht bewegen konnte, weder vorwärts noch nach rückwärts fliehend, solange der Strahl auf ihn gerichtet war.
Einen Augenblick verharrten sie so im Brennpunkt des Lichts, dann war wieder die Stimme zu hören: »Zeigt eure Gesichter!« Voronwe schlug seinen Umhang zurück, und sein Gesicht tauchte ins Licht, hart und klar, wie aus Stein gemeißelt, und Tuor staunte über die Schönheit seiner Züge. Darauf sagte Voronwe mit stolzer Stimme: »Weißt du nicht, wen du vor dir siehst? Ich bin Voronwe, Sohn Aranwes aus dem Haus Fingolfins. Oder hat man mich nach wenigen Jahren in meinem eigenen Land vergessen? Mein Weg hat mich weit über die Grenzen von Mittelerde hinausgeführt, doch ich erkenne deine Stimme, Elemmakil.«
»Dann wird sich Voronwe auch der Gesetze dieses Landes erinnern«, sagte die Stimme. »Da ihm befohlen wurde, fortzugehen, hat er das Recht zurückzukehren, doch nicht dieBefugnis, einen Fremden herzuführen. Dadurch hat er sein Recht verwirkt und muss sich als Gefangener dem Urteilsspruch des Königs unterwerfen. Was den Fremden betrifft, wird er getötet oder, wenn der Wachhabende es so bestimmt, gefangen genommen werden. Führe ihn hierher, damit ich entscheiden kann.«
Darauf
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