Nachrichten aus Mittelerde
verband sie mit einem Streifen von ihrem Gewand. Als sie ihn dabei berührte, bewegte er sich noch immer nicht, und sie küsste ihn erneut und rief laut: »Turambar, Turambar, komm zurück! Höre mich! Wach auf! Níniel ist hier. Der Drache ist tot, tot, und ich allein bin hier bei dir.« Doch er antwortete nicht.
Brandir hörte ihren Schrei, denn er hatte den Rand der Zerstörung erreicht. Doch während er auf Níniel zuging, hielt er inne und stand still. Denn, geweckt durch Níniels Schrei, regte sich Glaurung ein letztes Mal, und ein Zittern lief durch seinen ganzen Körper. Und er öffnete seine unheilvollen Augen einen Spaltbreit, und das Mondlicht schimmerte in ihnen, als er keuchend sagte: »Gegrüßt seist du, Nienor, Húrins Tochter. So sehen wir uns wieder vor dem Ende. Dir gönn’ ich’s, dass du endlich deinen Bruder gefunden. Und nun lerne ihn kennen: ein Meuchler im Dunkeln, Verräter an Freund und Feind, und ein Fluch für seine Sippe, Túrin, Húrins Sohn! Die schlimmste von allen Taten aber spüre du im eignen Leibe!«
Da saß Nienor wie eine Betäubte da, aber Glaurung starb; und mit seinem Tod fiel der Schleier seiner Tücke von ihr, und die Erinnerung an all ihre Tage lag klar vor ihr, und sie wusste alles, was mit ihr geschehen war, seit sie auf dem Haudh-en-Elleth lag. Ihr ganzer Körper schüttelte sich vor Entsetzen undQual. Brandir aber, der alles mit angehört hatte, war im Innersten getroffen und lehnte sich an einen Baum.
Da sprang Nienor plötzlich auf die Füße, stand fahl wie ein Gespenst im Mondlicht, und auf Túrin niederblickend rief sie: »Leb wohl, o zweifach Geliebter!
A Túrin Turambar turún’ ambartanen:
Meister des Schicksals, vom Schicksal gemeistert! O Glück, tot zu sein!« Und von Grauen und Schmerz überwältigt, verließ sie diesen Ort in wilder Flucht, und Brandir stolperte hinter ihr her und schrie: »Warte! Warte, Níniel!«
Einen Augenblick hielt sie inne und sah starren Blickes zurück. »Warten?«, schrie sie. »Das war immer dein Rat. Hätte ich ihn nur befolgt! Aber nun ist es zu spät. Und jetzt will ich in Mittelerde nicht länger warten.« Und sie rannte von ihm fort. 27
Rasch kam sie zum Rand der Cabed-en-Aras, und dort stand sie, blickte in das tosende Wasser und schrie: »Wasser, Wasser! Nimm nun Níniel Nienor, Tochter Húrins, zu dir; nimm Trauer, Trauer, die Tochter Morwens! Nimm mich und trage mich zum Meer!« Mit diesen Worten warf sie sich über den Rand: ein weißer Blitz, den der dunkle Abgrund verschlang, ein Schrei, verloren im Brausen des Flusses. Die Wasser des Teiglin flossen weiter, doch die Cabed-en-Aras gab es nicht mehr: Von jetzt an wurde sie von den Menschen Cabed Naeramarth genannt, denn kein Hirsch übersprang sie mehr, alle Lebewesen mieden sie, und kein Mensch ging an ihrem Ufer entlang. Der letzte Mensch, der in ihre Dunkelheit hinabblickte, war Brandir, Sohn Handirs; und voll Entsetzen wandte er sich ab, denn sein Herz zitterte, und wenn er sein Leben jetzt auch hasste, brachte er es doch nicht über sich, den ersehnten Tod an diesem Ort zu suchen. 28 Dann kehrten seine Gedanken zu Túrin Turambar zurück, und er rief: »Hasse ich dich, oder habe ich Mitleid mit dir? Aber du bist tot. Ich schulde dir keinen Dank, der du mir alles genommen hast, was ich hatteoder haben wollte. Doch mein Volk ist in deiner Schuld. Es ziemt sich, dass es durch mich erfährt, was geschehen ist.«
Und also begann er zum Nen Girith zurückzuhumpeln, wobei er schaudernd den Ort vermied, wo der Drache lag. Als er den steilen Pfad erneut hinabkletterte, stieß er auf einen Mann, der durch die Bäume lugte und sich zurückzog, als er Brandir erblickte. Brandir aber hatte das Gesicht im Schein des sinkenden Monds erkannt.
»Ha, Dorlas!«, rief er. »Welche Neuigkeiten kannst du mir erzählen? Wie bist du lebend davongekommen? Was geschah mit meinem Verwandten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Dorlas mürrisch.
»Das ist merkwürdig«, erwiderte Brandir.
»Wenn du es wissen willst«, sagte Dorlas, »so vernimm, dass das Schwarze Schwert uns in der Dunkelheit die Stromschnellen des Teiglin überqueren lassen wollte. Ist es verwunderlich, dass ich es nicht konnte? Ich kann besser mit der Axt umgehen als mancher andere, aber habe ich die Füße einer Ziege?«
»Also gingen sie ohne dich weiter und auf den Drachen los?«, sagte Brandir. »Doch was geschah, als sie drüben waren? Zumindest bist du doch in der Nähe gewesen und hast sehen können, was
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