Nachruf auf eine Rose
Fenwick um Jahre jünger. Und doch, wo sie es zum ersten Mal gewagt hatte, ihre Gedanken laut auszusprechen, erkannte sie das Körnchen Wahrheit in ihnen. Einen Vater wie ihn hatte sie sich immer gewünscht.
Sie stellte die Kaffeebecher und Kuchenteller in einen Karton und trug ihn vorsichtig nach oben. Cooper saß noch genauso da wie vorhin, den Kopf über den Schreibtisch gesenkt, und war vielleicht mittlerweile bei seinem dreißigsten Fall in dieser Nacht angelangt.
«Der Chief Inspector hat gerade angerufen.»
Nightingale versuchte, sich keine Reaktion anmerken zu lassen.
«Er war bei jedem Suchtrupp, nichts! Er fährt jetzt nach Hause. Er möchte, dass wir ihm Claire Keatings Bericht rüberschicken sowie die Niederschriften alter Vernehmungen von Sally und Alexander Wainwright-Smith.»
«Ich erledige das!»
«Das dachte ich mir schon, doch wenn Sie beim Kopieren sind, essen Sie den Kuchen und trinken Ihren Kaffee. Sehen Sie mich nicht so an. Sie essen das zuerst auf – das ist ein Befehl!»
Nightingale brauchte etwa eine halbe Stunde, bis sie alle Unterlagen beisammen und kopiert hatte, dann noch einmal zehn Minuten für die Fahrt zu ihm nach Hause.
Kein Laut drang aus dem Haus. Sie wusste, dass die Musik, die er liebte, ihm keine Ablenkung bieten würde. Vielleicht würde ihm ein wenig Arbeit helfen. Sie parkte den Wagen hinter seinem, öffnete die Tür und schwang ihre langen Beine hinaus. Im Halbdunkel der Veranda drückte sie den Klingelknopf. Fenwick öffnete die Tür.
Nightingale erschrak über sein abgespanntes Aussehen. Offenbar war er sich immer wieder mit den Fingern durch die Haare gefahren, denn sie standen ihm zu Berge, und Nightingale unterdrückte den Drang, darüber zu streichen.
Aus seinem umschatteten Blick sprach eine so tiefe Seelenqual und Verzweiflung, dass Tränen des Mitgefühls in ihr aufstiegen.
«Ich bringe die Unterlagen, Sir», sagte sie leise, aber entschlossen.
«Danke.» Seine Antwort war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Er streckte die Hände aus, um die Unterlagen entgegenzunehmen, doch zu ihrer eigenen Bestürzung ließ sie sie nicht los. Er spürte ihr Widerstreben und sah sie einen Moment lang verwirrt an. Er schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Er zögerte.
«Kann ich bleiben und Ihnen damit helfen, Sir? Es ist furchtbar viel.»
In diesem Moment wusste sie, dass das Kräftegleichgewicht sich zu ihren Gunsten neigte.
«Kommen Sie herein.»
Sie dachte an ihren letzten Besuch hier, und die Erinnerung an Bess, wie sie in ihrem Nachthemd bei ihr gesessen hatte, überkam sie mit Macht. Schon wieder spürte sie, wie diese verdammten Tränen ihr die Kehle zuschnürten. Warum fiel es ihr ausgerechnet heute Nacht so schwer, sich zusammenzureißen?
In seinem Arbeitszimmer war es kalt, und die Luft war abgestanden: eine Mischung aus Angstschweiß, einer Spur Rasierwasser und der erdigen Note nach alten, ledergebundenen Büchern, die die Wände des Zimmers säumten.
«Wonach sollen wir suchen, Sir?»
«Nach Beweisen», antwortete er barsch, doch sie verstand. «Ich habe darüber nachgedacht, warum jemand Bess entführen sollte. Wer könnte einen Nutzen daraus ziehen, Nightingale?»
«Einen Nutzen? » Seine Wortwahl entsetzte sie.
«Wir haben es hier mit einem Verbrechen zu tun. Also müssen wir uns über das Motiv Gedanken machen.»
Plötzlich war Nightingale klar, warum er nach den Unterlagen gefragt hatte, die sie immer noch im Arm hielt.
«Ja, glauben Sie denn, dass Bess’ Verschwinden mit dem Fall Wainwright zusammenhängt? Aber warum?»
«Ich hatte vor, Sally Wainwright heute festzunehmen. Und wenige Stunden davor ist meine Tochter verschwunden.»
«Aber Inspector Blite wird sie doch so oder so festnehmen.»
«Möglicherweise, doch er hat sie verhört und sie bereits zweimal zu einer Gegenüberstellung einbestellt, mit null Ergebnis bisher. Sie läuft also immer noch frei herum.»
«Aber nicht mehr lange. Sie muss sich doch darüber im Klaren sein, dass ihre Festnahme nur noch eine Frage der Zeit ist.»
«Sie gehen davon aus, dass Sally ein rational denkender und handelnder Mensch ist. Doch das ist sie nicht.»
Er zog Claire Keatings Gutachten aus dem obersten Aktendeckel und überflog es rasch, wobei er mehrere Male nickte, als sähe er seine Vermutungen bestätigt.
«Überlegen Sie doch mal. Sie ist es gewöhnt, jeden Mann in ihrem Leben unter Kontrolle zu halten, sie hat sich diese Verhaltensweise schon als Kind angeeignet.
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